Page - 48 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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bombardiert werden solle, bilden sich am Hof zwei Parteien, die pro-
französische und die pro-englische. Der König schwankt, und in seinem
Schwanken wird er zum erstenmal bewußt, was Brasilien in drei
Jahrhunderten geworden ist: das kostbarste Gut seiner Krone und längst nicht
mehr eine bloße Kolonie. Er ahnt, daß es in Hinkunft vielleicht mehr
Reichtum, Macht und Weltstellung bedeuten wird, Brasilien sein eigen zu
nennen als Portugal; zum erstenmal schwankt in der Waagschale Portugal zu
Brasilien gleich zu gleich.
In letzter Stunde fällt das Haus Bragança, als Napoleon 1807 das
Ultimatum stellt, ob Portugal für ihn oder gegen ihn sein wolle, die
Entscheidung: lieber Lissabon aufgeben, lieber ganz Portugal verlieren als
Brasilien. Während Junot in Eilmärschen schon vor den Toren Lissabons
angelangt ist, schifft sich die königliche Familie mit fünfzehntausend
Personen, dem ganzen Adel, dem Magistrat, den Kirchenleuten, den
Generälen und – last but not least – zweihundert Millionen Cruzados hastig
ein, überquert unter dem Schutz der englischen Flotte den Ozean. Ein
Weltumsturz mußte kommen, damit zum erstenmal in drei Jahrhunderten
irgendein Angehöriger des Hauses Bragança und nun sogar sein König in
persona den Boden Brasiliens betritt.
Der Gouverneur und die Zeremonienmeister erschrecken heftig. Rio de
Janeiro hat keine Paläste, hat nicht genug Räume und Betten, um so hohe
Gäste und einen so zahlreichen Hofstaat zu empfangen. Aber das Volk jubelt
dem Monarchen begeistert entgegen und begrüßt mit Jubelrufen ihn als den
»Imperador do Brasil«, denn es fühlt instinktiv, daß ein Monarch, der einmal
als Flüchtling bei ihm Schutz gesucht, Brasilien in Hinkunft nicht mehr länger
als untergeordnete Kolonie behandeln könne. In der Tat fallen bald nach der
Ankunft des Königs die einengenden Schranken. Vor allem werden die Häfen
dem Welthandel geöffnet, die industrielle Produktion unbeschränkt
freigegeben, eine eigene Bank geschaffen, die Banco do Brasil, Ministerien
eingesetzt, eine königliche Presse eröffnet, zum erstenmal darf in dem bisher
geknebelten Land sogar eine Zeitung erscheinen. Eine Reihe Institute
erstehen, die Rio de Janeiro zu einer wirklichen Hauptstadt machen,
Akademien, Museen, ein botanischer Garten. Aber erst 1815 erfolgt endlich
die volle staatsrechtliche Gleichberechtigung der reinos unidos; Portugal und
Brasilien, einst Herrin und Magd, sind nun Schwestern. Was vor einem
Jahrzehnt nicht zu erträumen war und von staatsmännischer Weisheit
ansonsten in Jahrhunderten nicht zu erhoffen, das hat die weltumformende
Persönlichkeit Napoleons in knappster Frist erzwungen. Durch diesen
Glücksfall – immer waren, man kann es nicht genug wiederholen, die
Katastrophen Portugals Glücksfälle für Brasilien – bleibt der
Unabhängigkeitskrieg, der Nordamerika durch Jahre verwüstet und die
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197