Page - 68 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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gemächlicheren des Küstenmenschen, der Mann des Binnenlandes, der Mann
mit einer wirklichen Heimat. Die erste der großen Innen-Immigrationen mit
ihrer ausgleichenden und bindenden Wirkung hat eingesetzt, halb durch den
Plan der Jesuiten, halb durch die Gier der Paulisten, das Gute und das Böse
schaffen in scheinbarer Gegenwirkung und doch tieferer Verbundenheit an
einem gemeinsamen Werk. Im siebzehnten Jahrhundert bilden schon
Landwirtschaft, Viehzucht und Ackerbau im Binnenlande ein gesundes
Gegengewicht gegen die rasch aufgeblühte, aber auch rasch abwelkende,
ständig den Schwankungen des Weltmarkts unterworfene Tropenwelt des
Nordens. Und immer zielbewußter wird dieser Wille Brasiliens, aus einer
bloßen Lieferungsstelle kolonialer Produkte ein sich selbst erhaltendes Land
zu werden, ein sich nach eigenen Gesetzen entfaltender Organismus statt
eines bloß abgelegten Schößlings seines Mutterlandes.
An der Schwelle des achtzehnten Jahrhunderts ist Brasilien wirtschaftlich
bereits eine erträgnisreiche Kolonie, die für die portugiesische Krone im
gleichen Maße wichtiger wird, als sie von ihrem einstigen indischen und
afrikanischen Weltreich eine asiatische Kolonie nach der andern an die
Holländer und Engländer verliert. Vorbei sind für Lissabon die goldenen
Zeiten, wo, wie die Chronisten erzählten, der Tag meist nicht ausreichte, um
die einströmenden Zolleinnahmen aus dem Indienhandel zu zählen und zu
verbuchen. Brasilien aber ist schon im siebzehnten Jahrhundert kein
Passivposten mehr für Portugal und längst vergessen die Nöte des Anfangs,
wo flehend der Gouverneur um jeden Cruzado und Nóbrega in Lissabon um
ein paar abgelegte Hemden für seine Täuflinge betteln mußte. Die Brasilianer
sind gute Lieferanten, sie füllen die portugiesischen Schiffe mit kostbarer
Ware, sie erhalten aus eigenem Gewinn die portugiesischen Beamten, und die
Zolleinnehmer schicken bereits stattliche Summen an die königliche Kasse
nach Portugal hinüber. Aber die Brasilianer sind außerdem auch gute Käufer
und Besteller; manche dieser Zuckerkönige haben mehr Geld und Kredit als
ihr eigener König, und für seine Weine, seine Textilien, seine Bücher hat
Portugal unter all seinen Kolonien kein besseres Absatzgebiet. In aller Stille
ist Brasilien eine große und ständig prosperierende Kolonie geworden und
zugleich die Kolonie geblieben, die Portugal das wenigste Blut gekostet, die
geringsten Belastungen bringt und am wenigsten Investitionen fordert. Weder
in Bahia noch in Rio de Janeiro noch in Pernambuco sind große Garnisonen
erforderlich, um die Ordnung zu erhalten. Die Bevölkerung steigt ständig mit
den Jahren und hat nie, abgesehen von einigen kleinen Tumulten, eine
ernstliche Auflehnung versucht. Es ist nicht nötig, kostspielige Festungen zu
bauen, wie in Indien und Afrika, oder Geld für neue staatliche Investitionen
hinüberzuschicken; längst verteidigt, längst erhält sich dieses Land aus
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197