Page - 76 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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organisch in der Seele des Volkes verankert, auch im wirtschaftlichen Sinne
nicht mehr zu zerstören war.
Versucht man für die Epoche zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die
Bilanz von Soll und Haben aufzustellen zwischen der Kolonie und dem
Mutterland, zwischen Brasilien und Portugal, so findet man ein vollkommen
verändertes Bild. Von 1500 bis 1600 ist Brasilien der nehmende, Portugal der
gebende Teil: es muß Beamte und Schiffe, Waren und Soldaten, Kaufleute
und Kolonisten hinüberschicken, und seine weiße Bevölkerungszahl übertrifft
um das Zehnfache die junge Kolonie. Um 1700, also zu Beginn des
achtzehnten Jahrhunderts, dürfte die Waage auf gleich schwanken und sich
eher zu Gunsten Brasiliens überneigen. Um 1800 hat sich die Proportion
schon in phantastischer Weise verändert. Portugal mit seinen 91 000
Quadratkilometern erscheint winzig neben dem Land, das achteinhalb
Millionen desselben Maßes umfaßt. Allein an schwarzen Sklaven beherbergt
es mehr als Portugal mit all seinen Untertanen; an wirtschaftlicher Kraft ist
das amerikanische Reich nicht mehr zu vergleichen mit dem verarmten, in
ökonomischen Marasmus immer tiefer verfallenden europäischen
Heimatland. Mit viel Gold oder wenig Gold, mit seinen Diamanten, seinem
Zucker, seiner Baumwolle, seinem Tabak, seinem Viehstand, seinen Erzen
und nicht zuletzt seinen von Jahr zu Jahr gewaltig wachsenden Arbeitskräften
hat es sich längst von jeder Hilfeleistung emanzipiert. Das Kind erhält jetzt
die Mutter und nicht mehr die Mutter das Kind. Beim Erdbeben von Lissabon
schickt Brasilien nicht weniger als drei Millionen Cruzados zum Aufbau als
Geschenk hinüber, und vermögend ist in Portugal nurmehr, wer Besitz hat in
Brasilien oder Handel treibt mit seinen Häfen und Städten. Wie eine Welt
steht Brasilien neben der pequena casa Lusitana.
Aber je kräftiger, je männlicher, je aufrechter Brasilien sich entfaltet, um so
sichtlicher verrät das Mutterland die Sorge, sein allzu kräftig geratenes Kind
könnte eines Tages seiner Obhut entlaufen. Immer wieder versucht es, das
schon selbständig handelnde, selbständig denkende, selbständig wirkende
Wesen, als ob es noch unmündig wäre und am königlichen Gängelband
geführt werden müßte, in die Gehschule einzuschließen. Mit Gewalt soll seine
wirtschaftliche Selbständigkeit verhindert werden. Während Nordamerika
längst frei sein Schicksal bestimmt, darf Brasilien noch keine Waren erzeugen
außer seinen Fertigprodukten. Es darf keine Stoffe weben, sondern soll sie auf
dem Umweg über das Mutterland beziehen, es darf keine eigenen Schiffe
bauen, damit einzig die portugiesischen Reeder verdienen. Für geistige
Menschen, für Techniker, für Industrielle soll dort kein Raum sein und kein
Tätigkeitsfeld. Kein Buch darf dort gedruckt werden, keine Zeitung
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197