Page - 77 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
Image of the Page - 77 -
Text of the Page - 77 -
veröffentlicht, und mit den Jesuiten nimmt man ihnen noch die einzigen, die
dort ein wenig Bildung verbreiten. Nur keinen selbständigen ökonomischen
Aufstieg, nur keine freie Verbindung mit den Weltmärkten! Brasilien soll
Sklavenland bleiben, Fronland, abhängige Kolonie, und je unselbständiger, je
ungeistiger, je unnationaler, desto besser. Jede Regung der Unabhängigkeit
wird gewaltsam niedergeschlagen. Und die portugiesischen Truppen, die
innerhalb Brasiliens stehen, haben längst nicht mehr wie einst den Sinn, die
Kolonie gegen äußere Feinde zu schützen, – denn dies vermöchte das Land
längst aus eigener Kraft –, sondern einzig die königliche Wirtschaftskaserne
gegen das eigene Land zu bewachen.
Aber immer wiederholt sich das gleiche Phänomen in der Geschichte; was
in Jahren und Jahren an Vernunft und Gleichgültigkeit versäumt wird,
erzwingt dann die brutale Gewalt in einer einzigen Stunde. Es ist
groteskerweise Napoleon, der Welttyrann Europas, der dieses amerikanische
Land befreit. Denn indem er den König von Portugal durch den blitzartigen
Vormarsch seiner Truppen zwingt, seine Residenzstadt Lissabon in
überstürzter Flucht zu verlassen, zwingt er ihn auch, zum erstenmal das Land
in Augenschein zu nehmen, das ihm seine Paläste gebaut und seiner Krone,
seinem Lande durch Jahrzehnte und Jahrhunderte der treueste Helfer
gewesen. Statt der Zolleinnehmer und der Gendarmerie erscheint nun zum
erstenmal mit seinem ganzen Hof, dem Adel und der Geistlichkeit ein
Angehöriger des Hauses Bragança, der König João VI., in seiner Kolonie.
Aber das neunzehnte Jahrhundert wird keine Kolonie Brasilien mehr
kennen; König João bleibt keine andere Wahl, als das Kind, das ihn, den
Geflüchteten, den kläglich Geschlagenen, in seine Arme nimmt und
aufrichtet, feierlich für mündig zu erklären. Unter dem Titel des Vereinigten
Königreichs wird Brasilien Portugal gleichgestellt, und für zwölf Jahre liegt
die Hauptstadt dieses Doppelkönigreichs nicht am Tajo mehr, sondern in der
Bucht von Guanabara. Mit einem Schlage sind die Schranken gefallen, die
Brasilien vom Welthandel bisher abgeschlossen haben, vorbei ist die Zeit der
Erlaubnisse und Verbote und strengen Dekrete. Fremde Schiffe dürfen seit
1808 hier landen, Waren ausgetauscht werden, ohne daß der Tribut abgeliefert
werden müßte an die Tesouraria jenseits des Meers. Brasilien darf arbeiten
und produzieren, darf sprechen und schreiben und denken, und so kann mit
der wirtschaftlichen endlich auch die lange gewaltsam zurückgehaltene
kulturelle Entwicklung beginnen. Zum erstenmal seit der flüchtigen Episode
der holländischen Besetzung werden Gelehrte, Künstler, Techniker von
hohem Rang ins Land berufen, um hier den Aufbau einer eigenen Kultur zu
fördern. Völlig unbekannte Dinge wie Bibliotheken, Museen, Universitäten,
Kunstakademien, technische Schulen werden eingerichtet und dem Lande
volle Freiheit gegeben, seine Sonderpersönlichkeit im Kulturkreis der Welt zu
77
back to the
book Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197