Page - 82 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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König Brasiliens, den Kaffee, ein gewaltiger Kronprätendent sich erheben,
um die Herrschaft an sich zu reißen: das Gummi. Es hätte eigentlich für
seinen Anspruch ein gewisses moralisches Recht, denn es ist nicht wie der
Kaffee ein ziemlich spät gekommener Immigrant, sondern ein heimischer
Bürger. Der Gummibaum, die Hevea brasiliensis, war ursprünglich in den
Wäldern des Amazonas zu finden. Dreihundert Millionen solcher Bäume
wachsen dort seit Hunderten und Hunderten von Jahren, ohne daß je
ihre besondere Form und ihr kostbarer Saft den Europäern bekannt geworden
wäre. Die Eingeborenen benutzen ab und zu das ausfließende Harz, wie Le
Condamine auf seiner Amazonasreise als erster 1736 feststellt, um ihre Segel
und Gefäße gegen das Wasser zu verkitten. Aber das klebrige Harz, industriell
nicht verwertbar, weil es weder hohen noch niederen Temperaturen
Widerstand zu leisten vermag, wird nur ab und zu in kleinen Quantitäten und
in primitiv angefertigen Artikeln zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts
nach Amerika geschickt. Die entscheidende Wendung kommt erst, als 1839
Charles Goodyear entdeckt, daß man durch eine Schwefellegierung die
weiche Masse in eine neue, gegen Hitze und Kälte weniger empfindliche
umwandeln könne. Mit einem Schlage wird der Kautschuk einer der »big
five«, eine der großen Notwendigkeiten der modernen Welt, kaum minder
wichtig als Kohle, Petroleum, Holz und Erz. Man benötigt ihn zu Schläuchen,
zu Galoschen und zu tausend anderen Dingen, und mit der Einführung des
Fahrrads und dann des Automobils nimmt sein Verbrauch gigantische
Proportionen an.
Für den Grundstoff dieses neuen Produkts besitzt nun Brasilien bis zum
Ende des neunzehnten Jahrhunderts das ausschließliche Monopol. Im ganzen
Weltall ist nur in seinen amazonischen Wäldern – ein ökonomischer
Glücksfall ohnegleichen – die Hevea brasiliensis zu finden; es ist also an
Brasilien, die Preise zu diktieren. Entschlossen, das kostbare Monopol für
sich allein zu behalten, verbietet die Regierung die Ausfuhr auch nur eines
einzigen Baumes, wohl sich erinnernd, wie sehr es selbst durch die
Einführung von ein paar Dutzend Kaffeesträuchern aus dem nachbarlichen
französischen Guayana seinerzeit den gefährlichsten Rivalen schachmatt
gesetzt hat. Und nun beginnt in merkwürdiger Parallelität zu der Entdeckung
des Goldes in Minas Gerais ein plötzlicher boom in den bisher nur von
Moskitos und anderem Getier bewohnten Urwäldern des Amazonas.
Abermals setzt mit diesem Zyklus des »flüssigen Goldes« eine gewaltige
Binnenimmigration in eine bisher unbesiedelte Provinz ein. Siebzigtausend
Menschen aus der Gegend von Ceará, die infolge einer plötzlichen Dürre ihre
bisherigen Wohnstätten verlassen mußten, werden von den Compagnien
angeworben und von Belém in Booten und Schiffen hinauf in diese Wildnis
geschickt, oder wenn man es ehrlicher sagt: verkauft. Denn ein furchtbares
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197