Page - 83 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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System der Ausbeutung beginnt in diesen Gegenden, die so weit von Gesetz
und Überwachung sind wie seinerzeit die Goldtäler von Minas Gerais;
obwohl nicht Sklaven, werden diese seringueiros durch Arbeitskontrakte und
dadurch, daß die Unternehmer, noch nicht zufrieden mit dem Gewinn an dem
Gummi, diesen unseligen Arbeitern im »grünen Gefängnis« des Urwalds
überdies noch die Waren und Lebensmittel, die sie benötigen, zum vier- und
fünffachen Preise verkaufen, praktisch in Knechtschaft gehalten. Wer alle
Einzelheiten des Horrors dieser Tage verstehen will, möge den wunderbaren
Roman von Ferreira de Castro nachlesen, der mit großartigem Realismus
diese schmachvolle Zeit schildert. Die Arbeit des seringueiro ist furchtbar; in
elenden Hütten im Urwald kampierend, abseits von jeder gesitteten
Menschheit, muß er mit Messer und Hacke durch das Gestrüpp erst den Weg
zu diesen Bäumen sich bahnen, muß sie anzeichnen und abzapfen, mehrmals
am Tag hin und zurück in der glühenden Hitze, muß zwischendurch die
Gummimilch rechtzeitig verkochen und bleibt dabei, vom Fieber geschüttelt,
in seinen Kräften zerstört, nach monatelanger Arbeit durch eine
verbrecherische Kalkulation noch immer Schuldner des Unternehmers, der
die Fracht der Beförderung von ihm zurückfordert, und der ihn bei der
Lebensmittellieferung bewuchert. Versucht er aus seinem »Arbeitskontrakt«,
wie man diesen Sklavendienst mit einem schöneren Worte nennt, zu
entfliehen, so wird er genau wie früher ein Sklave von bewaffneten Wächtern
gejagt und muß in Ketten weiterarbeiten.
Aber dank dieser schamlosen Ausbeutung der Arbeiter, dank des
Handelsmonopols und des von Jahr zu Jahr steigenden Weltbedarfs schnellen
die Gewinne ins Phantastische hinauf. Die Tage von Vila Rica und Vila Real
im achtzehnten Jahrhundert, da die Goldstädte mit hastigem Prunk und
sinnloser Pracht mitten in einer Einöde aufwuchsen, scheinen wiedergekehrt
im neunzehnten Jahrhundert. Belém blüht auf, und eine völlig neue Stadt
entsteht tausend Meilen weit von der Küste, Manaus, gewillt, Rio de Janeiro,
São Paulo und Bahia durch Luxus und Pracht zu übertreffen. Asphaltierte
Avenuen, Banken und Paläste mit elektrischem Licht, prächtige Häuser und
Geschäfte, das größte und luxuriöseste Theater Brasiliens, das nicht weniger
als zehn Millionen Dollar kostet, erstehen mitten im Urwald. Alles schwimmt
in Geld. Ein Konto, damals zweihundert Dollar, wird ausgegeben wie ein
Schilling, die raffiniertesten Luxuswaren kommen aus Paris und aus London
in den großen Dampfern, die immer öfter und öfter den Amazonas befahren.
Alles spekuliert, alles handelt mit Gummi, und während die Bäume bluten
und im grünen Gefängnis des Urwalds die seringueiros zu Hunderten und
Tausenden hinsterben, wird eine ganze Generation im Amazonasgebiet so
reich an dem flüssigen Gold wie einstens ihre Urväter in den Minenfeldern
von Minas Gerais. Auch der Staat profitiert freilich von diesem einträglichen
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197