Page - 87 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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überreizten Nationalismus vollzogen, so wären die einzelnen nicht mehr
gewillt gewesen, sich in eine neue Sprachform und Denkform aufzulösen. Sie
wären starr und widerstrebend an die Ideologie ihrer Länder gebunden
geblieben und nicht an die Idee ihres neuen Landes. So wie das Gold nicht zu
früh entdeckt wurde und nicht zu spät, um Brasiliens Wirtschaft zu fördern
und doch nicht seine Einheit zu gefährden, so wie der rettende Zyklus des
Kaffees gerade im Augenblicke des katastrophalsten Rückschlages einsetzte,
so hat sich die europäische Massenimmigration gerade in dem Augenblick
ereignet, wo sie am fruchtbarsten sich auswirken konnte. Statt das
Brasilianische in Brasilien zu verfremden, hat dieser mächtige Einschuß das
Brasilianische nur noch stärker, vielfältiger und persönlicher gemacht.
Auch im zwanzigsten Jahrhundert erfüllt sich somit wiederum das
gleichsam eingeborene Gesetz, daß Brasilien immer Krisen benötigt, um seine
Wirtschaft zu energischer Umstellung zu erziehen. Diesmal sind es zu seinem
Glück nicht mehr Krisen im eigenen Land, sondern die beiden Katastrophen
jenseits des Ozeans, die beiden großen europäischen Kriege, die seiner
ökonomischen Schichtung entscheidende Impulse geben. Der Erste Weltkrieg
offenbart Brasilien die Gefahr, beinahe seine ganze Exportproduktion an ein
einziges Rohstoffprodukt entscheidend gebunden und anderseits seine
Industrien nicht in ihrer ganzen Vielfalt ausgebaut zu haben. Der Kaffee-
Export stockt; damit ist die Hauptschlagader plötzlich abgebunden, ganze
Provinzen wissen nicht mehr, wohin mit ihren Kolonialprodukten, anderseits
können viele Fertigprodukte des täglichen Bedarfs bei der Unsicherheit der
Meere und der Kriegsbelastung Europas nicht mehr eingeführt werden. Weil
es allzu einseitig, allzu sorglos und ohne auf das innere Gleichgewicht zu
achten, auf den Absatz seiner Milliarden Kaffeebohnen die ganze
Handelsbilanz aufgebaut, beginnt diese gefährlich zu wanken, und dies
zwingt Brasilien, sich umzustellen und wenigstens einigen dieser industriellen
Unternehmungen sich zuzuwenden. Einmal eingesetzt, wirkt sich dieser
Impuls kräftig aus; während all der Jahre, da das unselige Europa durch
Kriegsangst und Kriegsvorbereitungen ständig gehemmt ist, werden nun eine
Anzahl maschineller und handwerklicher Artikel, die vorher von Europa
bezogen werden mußten, im Lande selbst hergestellt und eine gewisse
Autarkie vorbereitet. Wer dann nach einigen Jahren Abwesenheit wieder nach
Brasilien kam, war erstaunt zu sehen, wieviele vormals ausländische Artikel
schon durch inländische ersetzt worden waren, wie unabhängig auch sich in
den organisatorischen Maßnahmen das Land von fremden Instruktoren und
Direktoren in so kurzer Frist zu machen wußte. Dank dieser Vorbereitung traf
der Zweite Weltkrieg die brasilianische Wirtschaft nicht mehr so frontal wie
der Erste. Auch diesmal war ein Preissturz des Kaffees und vieler anderer
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197