Page - 91 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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Boden ebenso fehlt wie im neunzehnten Jahrhundert die Kohle, und das
Benzin, soweit es nicht durch Alkohol ersetzt werden kann, Tropfen für
Tropfen importiert werden muß. Um dieses Hauptproblem der Verkehrs- und
Transportschwierigkeit in beschleunigter Form zu lösen, wäre ein gewaltiges
Kapital nötig, und Brasilien fehlt es an flüssigem Kapital. Bares Geld ist von
je hier rar, selbst die Staatspapiere verzinsen sich mit ungefähr acht Prozent,
und im Privatverkehr klettert der Zinsfuß noch bedenklich höher hinauf. Die
mehrmalige Entwertung des Milreis, das alte, schon instinktiv gewordene
Mißtrauen gegen Engagements in Südamerika haben die nordamerikanische
und europäische Großfinanz durch Jahrzehnte zu großer und wahrscheinlich
übergroßer Vorsicht veranlaßt; anderseits übt die Regierung in den letzten
Jahren eine gewisse Zurückhaltung in der Erteilung von Konzessionen, um
die vitalsten Unternehmungen nicht ganz in ausländische Hände geraten zu
lassen. All das hat den Prozeß der Industrialisierung und Intensivierung im
Vergleich zu Europa und Nordamerika verlangsamt; während bei uns zu viel
und zu hastig investiert wurde, blieb manches hier um Jahrzehnte zurück. Um
von einem Ende bis zum andern dieses riesige Land, dieses Reich, diese Welt
rascher zur Entfaltung zu bringen, bedürfte es einer doppelten Befruchtung:
eines breiten Einstroms von Kapital und noch mehr eines ständigen Zustroms
von Menschen, der aber in den letzten Jahren durch den Weltkrieg und seine
ideologischen Folgen arg gedrosselt und eingeschränkt worden ist. Leidet
Nordamerika an einem Überschuß an flüssigem, in den Banken zinsenlos
aufgehäuften Kapital, leidet Europa an einem Überschuß von Menschen und
zu wenig Raum, an einem Zustand, der es kongestioniert und immer wieder
zu neuen plötzlichen Tobsuchtsausbrüchen im Politischen führt, so krankt
Brasilien an einer Anämie, an einem Zuwenig an Menschen in einem zu
großen Raum. Das Heilmittel für die alte Welt und für diese neue Welt
zugleich wäre: eine große, gründliche, mit aller Vorsicht und Geduld
durchgeführte Transfusion von Blut und Kapital.
Aber sind die Schwierigkeiten auch groß, – sie waren es vom ersten Tage
und blieben eigentlich immer dieselben –, so sind doch tausendmal größer
noch die Möglichkeiten dieses mächtigen und gesegneten Teils unserer Erde.
Gerade daß die Kapazität der potentiellen Kräfte hier noch nicht im
entferntesten ausgewertet ist, bedeutet eine unermeßliche Reserve nicht nur
für dieses Land, sondern für die ganze Menschheit. Gegen die Umstände, die
seine Entwicklung verlangsamen, ist Brasilien als Helfer ein wirklicher
Wundertäter zur Seite getreten, die moderne Wissenschaft, die moderne
Technik, von der wir wissen, was sie leisten kann, und doch nicht zu ahnen
vermögen, was sie noch leisten wird. Schon heute ist, wer nach einigen Jahren
das Land wieder betritt, ununterbrochen überrascht, welche erstaunlichen
Dinge sie im Sinne der Vereinheitlichung und Verselbständigung und
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197