Page - 95 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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Millionen Kombinationen, von denen keine einzige sich wiederholt, scheint
arm gegen dieses Chaos der Varianten, Kreuzungen und Überkreuzungen, in
denen sich die unerschöpfliche Natur in vier Jahrhunderten hier gefallen hat.
Aber wenn beim Schachspiel auch keine Partie der anderen gleicht, so
bleibt dieses Spiel doch immer Schach, weil eingeschlossen in den Rahmen
desselben Raums und bestimmten Gesetzen unterworfen. Ebenso hat die
Gebundenheit im selben Raum und damit die Anpassung an das gleiche
klimatische Gesetz sowie der einheitliche Rahmen der Religion und der
Sprache unter den brasilianischen Menschen bestimmte unverkennbare
Ähnlichkeiten jenseits der Eigenheiten erzeugt, die von Jahrhundert zu
Jahrhundert immer sichtbarer werden. Wie Kiesel in einem strömenden Fluß
sich mehr und immer mehr abschleifen, je mehr und je länger sie gemeinsam
rollen, so ist durch das Zusammenleben und die ständige Durchmischung
innerhalb dieser Millionen die scharfe Eigenlinie des Ursprungs immer
unmerkbarer geworden und gleichzeitig das Ähnliche und Gemeinschaftliche
immer größer. Noch ist dieser Prozeß der fortwährenden Verähnlichung durch
fortwährende Vermischung im Gang, noch ist die endgültige Form innerhalb
dieser Entwicklung nicht ganz starr und ausgebildet. Aber doch hat der
Brasilianer aller Klassen und Stände schon den deutlichen und typischen
Stempel einer Volkspersönlichkeit.
Wer das Charakteristische dieses Brasilianischen von irgendeinem
landeigenen Ursprung abzuleiten versuchte, geriete ins Unwahre und
Künstliche. Denn nichts ist so sehr typisch für den Brasilianer, als daß er ein
geschichtsloser Mensch oder zum mindesten einer mit einer kurzen
Geschichte ist. Seine Kultur fußt nicht wie die der europäischen Völker auf
uralten, bis in mythische Zeiten zurückreichenden Traditionen, noch kann sie
sich wie diejenige der Peruaner und Mexikaner auf eine prähistorische
Vergangenheit auf eigener Scholle berufen. Soviel die Nation in den letzten
Jahren durch neue Kombinationen und eigene Leistung zugetan, die
Aufbauelemente ihrer Kultur sind doch zur Gänze aus Europa importierte.
Sowohl die Religion, die Sitte als die äußere und innere Grundform des
Lebensstils dieser Millionen und Millionen verdankt wenig oder eigentlich
nichts der heimischen Erde. Alle Kulturwerte sind auf Schiffen
verschiedenster Art, auf den alten portugiesischen Karavellen, auf den
Segelbooten und den modernen Dampfern über das Meer gebracht worden,
und auch die pietätvoll-ehrgeizigste Mühe hat bisher einen wesentlichen
Beitrag der nackten und kannibalischen Ureinwohner zur brasilianischen
Kultur nicht finden oder erfinden können. Es gibt keine prähistorische
brasilianische Dichtung, keine urbrasilianische Religion, keine
altbrasilianische Musik, keine durch Jahrhunderte bewahrten Volkslegenden
und nicht einmal die bescheidensten Ansätze zu einem Kunsthandwerk; wo
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197