Page - 97 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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ein Unterschied nicht so sehr der volksmäßigen Struktur, als eine
Verschiedenheit der Generation. Beide Völker, heute in enger Freundschaft
verbunden, haben sich nicht einander entfremdet; sie haben sich
gewissermaĂźen nur auseinandergelebt. Deutlichstes Symbol dafĂĽr vielleicht
die Sprache. In Schrift und Vokabular, also in den Urformen, ist sie heute
noch fast vollkommen identisch, und man muĂź schon das Ohr fĂĽr die
allerletzten Nuancen geschärft haben, um zu erkennen, ob man das Buch
eines brasilianischen oder eines portugiesischen Dichters in Händen hält.
Anderseits ist kaum ein einziges Wort der Ursprache der TupĂs und Tapuyas,
wie sie die ersten Missionare noch verzeichneten, in das Brasilianisch von
heute übergegangen. Der Brasilianer spricht – dies der ganze Unterschied –
das Portugiesische nur anders, eben brasilianischer aus als der Portugiese, und
das MerkwĂĽrdigste ist, daĂź dieser brasilianische Akzent, dieser brasilianische
Dialekt vom Norden bis zum SĂĽden, vom Osten zum Westen ĂĽber achteinhalb
Millionen Quadratkilometer ein und derselbe geblieben ist, also eine
vollkommene Nationalsprache. Noch verstehen sich der Portugiese und der
Brasilianer vollkommen, da sie sich derselben Worte, derselben Syntax
bedienen, aber in der Intonation und zum Teil auch schon im literarischen
Ausdruck beginnen sich diese ursprünglich minimalen Varianten ungefähr in
dem gleichen Verhältnis zu verstärken, wie sich Engländer und Amerikaner
innerhalb derselben Sprachwelt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlicher als
Individualitäten voneinander absondern. Tausend Meilen Distanz, ein anderes
Klima, andere Lebensbedingungen, neue Bindungen und Gemeinsamkeiten
mußten sich nach vierhundert Jahren allmählich fühlbar machen, und
langsam, aber unaufhaltsam muĂźte hier ein neuer Typus, eine ganz
spezifische Volkspersönlichkeit entstehen.
Was den Brasilianer physisch und seelisch charakterisiert, ist vor allem, daĂź
er zarter geartet ist als der Europäer, der Nordamerikaner. Der wuchtige, der
massige, der hochaufgeschossene, der starkknochige Typus fehlt beinahe
vollkommen. Ebenso fehlt im Seelischen – und man empfindet es als Wohltat,
dies vertausendfacht zu sehen innerhalb einer Nation – jede Brutalität,
Heftigkeit, Vehemenz und Lautheit, alles Grobe, Auftrumpfende und
Anmaßende. Der Brasilianer ist ein stiller Mensch, träumerisch gesinnt und
sentimental, manchmal sogar mit einem leisen Anflug von Melancholie, die
schon Anchieta 1585 und Padre Cardim in der Luft zu fĂĽhlen meinten, als sie
dieses neue Land desleixada e remissa e algo melancĂłlica nannten. Sogar im
äußeren Umgang sind die Formen merkbar gedämpft. Selten hört man
jemanden laut sprechen oder gar zornig einen andern anschreien, und gerade
wo sich Massen sammeln, spürt man am deutlichsten diese für uns auffällige
Sordinierung. Bei einem groĂźen Volksfest wie dem bei Penha oder einer
Überfahrt im Ferryboat zu einer Art Kirchweih nach der Insel Paquetá, wo in
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen StraĂźen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf SĂŁo Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug ĂĽber den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197