Page - 98 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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einem dichtgedrängten Raum tausende Menschen und darunter unzählige
Kinder versammelt sind, hört man kein Toben und Juchzen, kein gegenseitig
sich zu wilder Lustigkeit Anfeuern. Auch wenn sie sich in Massen vergnügen,
bleiben hier die Menschen still und diskret, und diese Abwesenheit alles
Robusten und Brutalen gibt ihrer leisen Freude einen rührenden Reiz. Lärm
zu machen, zu schreien, zu toben, wild zu tanzen, ist hier der Sitte eine derart
gegensätzliche Lust, daß sie gleichsam als Ventil aller zurückgestauten Triebe
den vier Tagen des Karnevals aufgespart ist, aber selbst in diesen vier Tagen
des anscheinend zügellosen Übermuts kommt es innerhalb einer
Millionenmasse gleichsam von einer Tarantel gestochener Menschen nie zu
Exzessen, Unanständigkeiten oder Gemeinheiten; jeder Fremde, ja sogar jede
Frau kann sich beruhigt auf die quirlenden, von Lärm explodierenden Straßen
wagen. Immer bewahrt der Brasilianer seine natürliche Weichheit und
Gutartigkeit. Die allerverschiedensten Klassen begegnen sich untereinander
mit einer Höflichkeit und Herzlichkeit, die uns Menschen des in den letzten
Jahren arg verwilderten Europa immer wieder von neuem erstaunt. Man sieht
auf der Straße zwei Männer sich begegnen; sie umarmen sich. Unwillkürlich
denkt man, es seien Brüder oder Jugendfreunde, von denen einer gerade aus
Europa oder von einer exotischen Reise zurückgekehrt sei. Aber an der
nächsten Ecke sieht man wieder zwei Männer sich in dieser Art begrüßen und
erkennt, daß die accolade zwischen Brasilianern eine durchaus
selbstverständliche Sitte ist, ein Ausstrom natürlicher Herzlichkeit.
Höflichkeit wiederum ist hier die selbstverständliche Grundform
menschlicher Beziehung, und sie nimmt Formen an, die wir in Europa längst
vergessen haben – bei jedem Gespräch auf der Straße behalten die Leute den
Hut in der Hand, wo immer man eine Auskunft erbittet, wird einem mit
begeistertem Eifer geholfen und in den höheren Kreisen das Ritual der
Förmlichkeit mit Besuch und Gegenbesuch und Kartenabwerfen mit
protokollarischer Genauigkeit erfüllt. Jeder Fremde wird auf das
Zuvorkommendste empfangen und auf das Gefälligste ihm der Weg geebnet;
mißtrauisch wie wir leider geworden sind gegen alles natürlich Humane,
erkundigt man sich bei Freunden und neu Eingewanderten, ob diese offenbare
Herzlichkeit nicht eine bloß formelle und formale sei, ob dieses gute,
freundliche Zusammenleben ohne sichtbaren Haß und Neid zwischen Rassen
und Klassen nicht eine Augentäuschung ersten oberflächlichen Eindrucks sei.
Aber einstimmig hört man von allen als erste und wesentlichste Eigenschaft
dieses Volkes rühmen, daß es von Natur aus gutartig sei. Jeder einzelne, den
man befragt, wiederholt das Wort der ersten Ankömmlinge: É a mais gentil
gente. Nie hat man hier von Grausamkeit gegen Tiere gehört, nie von
Stierkämpfen oder Hahnenturnieren, nie hat selbst in den dunkelsten Tagen
die Inquisition ihre Autodafés der Menge dargeboten; alles Brutale stößt den
Brasilianer instinktiv ab, und es ist statistisch festgestellt, daß Mord und
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197