Page - 99 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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Totschlag fast niemals als geplante und vorausbedachte Tat geschehen,
sondern immer spontan als crime passional, als ein plötzlicher Ausbruch von
Eifersucht oder Gekränktheit. Verbrechen, die an List, Berechnung, Raubgier
oder Raffiniertheit gebunden sind, gehören zu den größten Seltenheiten; es ist
nur wie ein Nervenriß, ein Sonnenstich, wenn ein Brasilianer zum Messer
greift, und mir selbst fiel es auf, als ich die große Penitenciária in São Paulo
besuchte, daß der eigentliche in der Kriminologie genau verzeichnete
Verbrechertypus völlig fehlte. Es waren durchaus sanfte Menschen mit stillen,
weichen Augen, die irgendeinmal in einer überhitzten Minute etwas begangen
haben mußten, von dem sie selber nicht wußten. Aber im allgemeinen – und
dies bestätigte jeder Eingewanderte – liegt jede Gewalttätigkeit, alles Brutale
und Sadistische auch in den unmerklichsten Spuren dem brasilianischen
Menschen vollkommen fern. Er ist gutmütig, arglos, und das Volk hat jenen
halb kindlich-herzlichen Zug, wie er dem Südländer oft zu eigen ist, aber
doch selten in einem so ausgesprochenen und allgemeinen Maß wie hier. In
all den Monaten bin ich hier keiner Unfreundlichkeit begegnet, nicht oben
und nicht unten; überall konnte ich den gleichen – heute so seltenen – Mangel
an Mißtrauen gegen den Fremden, gegen den Andersrassigen oder
Andersklassigen feststellen. Manchmal, wenn ich in den favelas, diesen
prachtvoll pittoresken Negerhütten, die auf den Felsen mitten in der Stadt wie
schwanke Vogelhäuschen liegen, neugierig herumkletterte, hatte ich ein
schlechtes Gewissen und schlimmes Vorgefühl. Denn schließlich war ich
gekommen, mir als Neugieriger eine unterste Stufe der Lebenshaltung
anzusehen und in diesen jedem Blick wehrlos offenstehenden Lehm- oder
Bambushütten Menschen im primitivsten Urzustand zu beobachten und somit
unbefugt in ihre Wohnungen und damit in ihr privatestes Leben
hineinzuschauen; im Anfang war ich eigentlich ständig gewärtig, etwa wie in
einer proletarischen Arbeitergegend in Europa, einen bösen Blick ins Auge
oder ein Schimpfwort in den Rücken zu bekommen. Aber im Gegenteil,
diesen Arglosen ist ein Fremder, der sich in diesen verlorenen Winkel
bemüht, ein willkommener Gast und beinahe ein Freund; mit blinkenden
Zahnreihen lacht der Neger, der einem wassertragend begegnet, einem zu und
hilft einem noch die glitschigen Lehmstufen empor; die Frauen, die ihre
Kinder säugen, sehen freundlich und unbefangen auf. Und ebenso begegnet
man in jeder Straßenbahn, auf jedem Ausflugsschiff, gleichgültig ob man
einem Neger, einem Weißen oder Mischling gegenübersitzt, der gleichen
unbefangenen Herzlichkeit. Niemals ist innerhalb der Dutzende Rassen etwas
von Absonderung gegeneinander zu entdecken, weder bei Erwachsenen noch
bei Kindern. Das schwarze Kind spielt mit dem weißen, der Braune geht mit
dem Neger selbstverständlich Arm in Arm, nirgends gibt es Einschränkung
oder auch nur privaten Boykott. Beim Militär, in den Ämtern, auf den
Märkten, in den Büros, in den Geschäften, in den Arbeitsstätten denken die
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197