Page - 103 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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man träumt; es soll vom Himmel kommen, und die Funktion dieses Himmels
ersetzt in Brasilien die Lotterie. Das Lotto ist in Brasilien eine der wenigen
sichtbaren Leidenschaften dieses äußerlich so stillen Volkes und die
tagtägliche solidarische Hoffnung von Hunderttausenden und Millionen.
Ununterbrochen dreht sich das Glücksrad, jeden Tag ist neue Ziehung. Wo
man geht und wo man steht, in jedem Geschäft und auf der Straße, auf dem
Schiff und in der Bahn werden einem Lose angeboten, und jeder Brasilianer
kauft Lose mit dem, was er von seinem Wochenlohn gerade übrig hat, der
Friseurgehilfe, der Schuhputzer, der Gepäckträger, der Angestellte und der
Soldat. Um eine bestimmte Nachmittagsstunde sieht man dann wie eine
schwarze Geschwulst dicke Ansammlungen von Menschen vor den
Ziehungsstellen, in allen Häusern und Geschäften ist das Radio aufgedreht,
die Erwartung einer ganzen Stadt oder vielmehr des ganzen Landes ist in
diesem Augenblick auf eine einzige Ziffer und eine einzige Zahl gestellt. Die
oberen Schichten wieder spielen in den Kasinos, und fast jeder Kurort, jedes
vornehme Luxusetablissement hat das seine. Monte Carlo ist hier
verdutzendfacht, und selten sieht man einen der Tische nicht umdrängt. Aber
noch nicht genug an dem. Zu diesem aus Europa importierten Spiel, dem
Lotto, dem Baccarat und dem Roulette, hat sich die Bevölkerung hier noch
ein eigenes brasilianisches Nationalspiel erfunden, das bicho, das sogenannte
Tierspiel, das zwar von der Regierung streng verboten ist, aber trotz aller
Verbote auf das fleißigste gespielt wird.
Dieses Bicho, dieses Tierspiel, hat eine sonderbare Entstehungsgeschichte,
die an sich schon deutlich zeigt, wie sehr diese Leidenschaft für das Hasard
dem träumerischen und naiven Charakter dieses Volkes zutiefst entspricht.
Der Direktor des Zoologischen Gartens in Rio de Janeiro hatte über
schlechten Besuch zu klagen. So kam er, seine Landsleute genau kennend, auf
die gloriose Idee, daß jeden Tag ein bestimmtes Tier seines zoologischen
Gartens, einmal der Bär, einmal der Esel, einmal der Papagei, einmal der
Elefant ausgelost wurde. Wessen Besucherkarte diesem Tier entsprach, dem
wurde dann der zwanzig- oder fünfundzwanzigfache Eintrittspreis ausbezahlt.
Sofort stellte sich der erwünschte Erfolg ein: der Tiergarten wurde durch
Wochen von Menschen überfüllt, die eigentlich weniger kamen, um die Tiere
sich anzusehen, als die Prämie zu gewinnen. Schließlich wurde es ihnen zu
weit und zu mühsam, immer wieder in den Tiergarten zu gehen. So spielten
sie privatim untereinander, welches Tier an diesem Tage ausgelost werden
würde. Kleine Winkelbanken taten sich hinter Schanktischen und an den
Straßenecken auf, welche den Einsatz aufnahmen und die Gewinne
ausbezahlten. Als dann die Polizei das Spiel verbot, wurde es auf
geheimnisvolle Weise dem jeweiligen Lottoresultat angegliedert, in dem jede
Ziffer für einen Brasilianer ein bestimmtes Tier darstellte. Um der Polizei
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197