Page - 107 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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gemeinsam wird der Beruf, das Studium des einzelnen bestimmt. In der
Familie wiederum ist der Vater, der Mann noch unbeschränkter Herr über die
Seinen. Er hat alle Rechte und Vorrechte, kann Gehorsam als
selbstverständlich voraussetzen, und es ist besonders in den ländlichen
Kreisen noch wie einst bei uns in früheren Jahrhunderten der Brauch, daß die
Kinder dem Vater die Hand küssen als Zeichen des Respekts. Die männliche
Superiorität und Autorität sind noch unbestritten und dem Manne vieles
verstattet, was der Frau versagt ist, die, wenn auch nicht mehr so streng
gehalten wie noch vor wenigen Jahrzehnten, im wesentlichen auf den inneren
Wirkungskreis im Haus beschränkt ist. Die bürgerliche Frau betritt hier fast
nie allein die Straße, und selbst von einer Freundin begleitet wäre es
unzulässig, wenn sie nach Einbruch der Dämmerung ohne ihren Gatten außer
dem Hause gesehen würde. Darum sind abends, ähnlich wie in Spanien oder
Italien, die Städte eigentlich nurmehr Männerstädte; die Männer sind es, die
die Cafés überfüllen, auf den Boulevards promenieren, und es wäre selbst in
den Großstädten kaum denkbar, daß Frauen oder Mädchen abends ohne
Begleitung des Vaters oder Bruders in ein Kino gingen.
Emanzipationsbestrebungen oder Frauenrechtlerei haben hier noch keinen
Boden gefunden, selbst die berufstätigen Frauen, die hier noch in
verschwindender Minorität gegen die an Haus und Familie gebundenen
stehen, bewahren die traditionelle Zurückhaltung. Noch eingeschränkter ist
selbstverständlich die Stellung der jungen Mädchen. Freundschaftlicher
Verkehr mit jungen Leuten auch naivster Art, sofern er nicht deutlich von
Anfang an sich mit Heiratsabsichten verbindet, ist selbst heute noch nicht
üblich, und das Wort flirt läßt sich nicht ins Brasilianische übersetzen. Im
allgemeinen heiratet man, um alle Komplikationen zu vermeiden,
außerordentlich früh, die Mädchen aus den bürgerlichen Kreisen meist mit
siebzehn, mit achtzehn Jahren, wenn nicht schon vordem. Baldiger sowie
reichlicher Kindersegen ist hier noch erwünscht und nicht gefürchtet. Frau,
Haus, Familie sind hier noch innig verbunden, außer bei wohltätigen
Veranstaltungen treten die Frauen selbst bei festlichen oder repräsentativen
Anlässen niemals in den Vordergrund und – mit Ausnahme der Geliebten
Dom Pedros I., der Marquise von Santos – haben sie im politischen Leben
niemals eine Rolle gespielt. Amerikaner und Europäer mögen dies hochmütig
als rückständig empfinden, aber diese unzähligen Familien, die still und ohne
jede Vordringlichkeit in ihren kleinen Häusern zufrieden leben, bilden durch
ihre gesunde, normale Existenzform das eigentliche Kraftreservoir der
Nation. Aus dieser mittleren Schicht, die trotz ihrer konservativen
Lebenshaltung bildungseifrig und fortschrittsfreundlich gesinnt ist; aus
diesem festen und gesunden Humus stammt heute jene Generation, die die
Führung des Landes mit den alten und aristokratischen Familien zu teilen
beginnt, und in gewissem Sinne ist Vargas, der selbst vom Lande und aus dem
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197