Page - 112 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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gleichsam durch einen Zufall entstanden. Euclides da Cunha, seinem Beruf
nach Ingenieur, hatte als Vertreter der Zeitung »Estado de São Paulo« eine der
militärischen Expeditionen gegen die Canudos, eine aufständische Sekte in
dem wilden und düsteren Gebiet des Nordens begleitet. Der Bericht über die
Expedition, mit prachtvoller dramatischer Kraft gestaltet, wuchs sich in
Buchform zu einer umfassenden psychologischen Darstellung der
brasilianischen Erde, des Volkes, des Landes aus, wie sie seitdem mit
ähnlichem Tiefblick und soziologischer Weitsicht nie mehr versucht und nie
mehr erreicht worden ist. Vergleichbar in der Weltliteratur noch am ehesten
den »Sieben Säulen der Weisheit«, in denen Lawrence den Kampf in der
Wüste schildert, ist dieses im Ausland wenig bekannte großartige Epos
bestimmt, unzählige heute berühmte Bücher zu überdauern durch die
dramatische Großartigkeit seiner Darstellung, seinen Reichtum an geistigen
Erkenntnissen und die wunderbare Humanität, die das Werk erfüllt. Wenn die
brasilianische Literatur heute in ihren Romanschriftstellern und Dichtern an
Subtilität, an sprachlicher Nuancierung im einzelnen ungeheure Fortschritte
gemacht hat, so hat sie doch mit keinem Werke mehr diesen überragenden
Gipfel erreicht.
Schwach dagegen ist vorläufig noch die dramatische Kunst entwickelt.
Hier ist kein Name eines Dramas mir als wirklich bemerkenswert genannt
worden, und auch im öffentlichen und geselligen Leben spielt die
theatralische Kunst kaum eine wesentliche Rolle. An sich ist diese Tatsache
nicht verwunderlich, denn das Theater als typisches Produkt einer einheitlich
organisierten Gesellschaft ist eine Kunstform, die ausschließlich innerhalb
einer bestimmten Schicht der Gesellschaft in Erscheinung treten kann, und
diese Form der Gesellschaft hat in Brasilien nicht Zeit gehabt, sich zu
entwickeln. Brasilien hat kein elisabethanisches Zeitalter durchlebt, keinen
Hof Ludwig XIV., keine breite bürgerliche theaterfanatische Masse gehabt
wie Spanien oder Österreich. Alle theatralische Produktion beruhte bis tief in
das Kaiserreich ausschließlich auf Import – und zwar infolge der
Riesendistanz auf dem Import minderer Truppen und minderer Ware. Ein
richtiges nationales Theater war selbst unter Dom Pedro nicht richtig versucht
und gefördert worden; die ersten Truppen, die von Europa ins Land kamen,
spielten sogar in spanischer und nicht in portugiesischer Sprache. Heute, da in
den Millionenstädten schon ein aufnahmefähiges Publikum bestünde, ist es
durch den alles überflutenden Einfluß des Kinos vielleicht schon zu spät, hier
einen Anfang zu machen.
Ähnlich liegen die Verhältnisse in der Musik. Auch hier macht sich das
Fehlen einer jahrhundertealten, tief in alle Schichten eingedrungenen
Tradition fühlbar. Es fehlen die großen herangebildeten Chöre, so daß gerade
die monumentalen Werke der Musik wie die Matthäuspassion, die großen
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197