Page - 113 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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Requiems, die neunte Symphonie von Beethoven, die Händelschen Oratorien
dem großen Publikum soviel wie unbekannt sind. Die Oper in Rio de Janeiro
und São Paulo baut ihr Repertoire noch wie vor fünfzig Jahren auf die
italienische Oper Verdis und bestenfalls Puccinis auf. Ein Werk wie der
»Tristan«, den Kaiser Dom Pedro vor fast hundert Jahren für Rio de Janeiro
zur Uraufführung haben wollte, ist vielleicht zwei- oder dreimal seitdem
gespielt worden und die wirklich neuzeitliche Musik soviel wie unbekannt.
Erst jetzt hat man damit begonnen, symphonische Orchester aufzubauen, aber
noch immer ist es die leichte, die gefällige Musik, die hier im Publikum
vorwaltet.
Um so erstaunlicher deshalb, daß dieses Land schon zu einer Zeit, wo es
wirklichen Heroismus und einen geradezu verzweifelten Lernwillen
erforderte, sich heranzubilden, einen Musiker hervorgebracht hat, dem ein
rauschender Welterfolg beschieden war, Carlos Gomes. In einem kleinen
Städtchen im Staate von São Paulo 1836 geboren, tritt er schon mit zehn
Jahren in eine Musikkapelle ein und bildet sich nun ohne jeden richtigen
Lehrer in einem Lande, wo Partitur und wirkliche Opernvorstellungen kaum
für ihn erreichbar sind, so willenskräftig aus, daß er bereits mit
vierundzwanzig Jahren eine Oper, »A Noite do Castelo«, vorlegen kann. 1861
in Rio de Janeiro aufgeführt, wird sie ebenso wie seine nächste ein großer
nationaler Erfolg. Nun nimmt sich der Kaiser Dom Pedro seiner an und sendet
ihn zur weiteren Ausbildung nach Europa. In Italien fällt ihm der Roman
seines Landsmanns, die »Guarani« von José de Alencar, in italienischer
Übersetzung in die Hand, und sofort stürzt er damit zum Librettisten, dies sei
das Werk, mit dem er als Brasilianer Brasilien vor der Welt darstellen wolle.
1870 wird die Oper in der Scala aufgeführt und ein sensationeller Erfolg. Der
Altmeister Verdi erklärt, einen würdigen Nachfolger gefunden zu haben, und
noch heute gelangen die »Guarani« – die beste Oper Meyerbeers, wie sie ein
Musikhistoriker genannt hat – ab und zu auf italienischen Bühnen zur
Aufführung. Ein typisches Musterexemplar jener großen Oper, die dem Auge,
dem Ohr alles reichlich und überreichlich gibt, nur der Seele nicht genug,
melodiös in ihrem lyrischen Teil, macht das Werk heute noch den Erfolg und
die großen Hoffnungen, die man an den weiteren Aufstieg Carlos Gomes’
knüpfte, verständlich, aber gerade weil sie so trefflich in diese romantische
und pompöse Meyerbeer-Zeit paßten, sind die »Guarani« heute schon mehr
ein musikhistorisches Dokument als lebendige Musik. Den typisch
brasilianischen Beitrag zur Weltmusik hat bedeutend mehr als der
italianisierende Carlos Gomes uns Villa Lobos gegeben. Ein starker,
eigenwilliger Rhythmiker, der jedem seiner Werke eine bei anderen
Komponisten nicht zu findende Farbe gibt, die in ihrer Grelle und dann
wieder in ihrer geheimnisvollen Schwermut geheimnisvoll die Landschaft
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197