Page - 126 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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Ohne große Erwartung tritt man durch die schweren, kunstvoll geschnitzten
Holztüren. Aber kaum man den Innenraum betritt, ist man geblendet. Eben
stand man noch im scharfen südlichen Sonnenlicht von Rio, jetzt ist es nur ein
honigfarbener Schimmer, der einen umhüllt, ein sonderbar weiches,
gedämpftes Licht wie das eines nebligen Sonnenuntergangs. Man
unterscheidet keine Formen, keine Konturen, Raum und Form zerfließen in
diesem leuchtenden Nebel. Dann nimmt man erst wahr, daß dieser Schimmer
von Gold ausgeht, das all die Wände einheitlich umleuchtet. Aber es ist nicht
der laute, dröhnende, gellende Farbton von vergoldetem Metall, sondern ein
ganz dünner, ein – möchte man sagen – leiser Glanz, der wie eine Lasur die
Pfeiler und das Getäfel umspielt. Jede Linie, jede Fläche fließt dadurch zart
und weich ineinander über und ergibt, gemengt mit dem Tageslicht, das von
den Dachfenstern einströmt, diesen schwebenden Glanz, der wie ein feiner
Rauch das weite und geräumige Kirchenschiff durchzieht.
Allmählich gewöhnt sich das Auge und vermag Einzelheiten zu erfassen.
Und nun erkennt man, was in unseren Kirchen aus Stein und Metall und
Marmor geformt ist, die geschnitzten Balustraden, die Täfelung, die
Verzierungen, ist hier aus dem heimischen Holz, nur daß dies Holz mit einer
ganz dünnen Schicht von Gold – man weiß nicht zu sagen: übermalt oder
überzogen ist, einer so dünnen und so kunstvoll aufgetragenen Schicht, daß
sie zart und unauffällig jede Schwingung und Biegung wiedergibt und das
Krause des Barocks auf wunderbare Weise entlastet. Ohne an Originalität
oder an Pracht den großen Kathedralen Europas vergleichbar zu sein, ist mit
São Bento seinen Künstlern doch etwas Einmaliges gelungen: eine glückliche
und neuartige Bewältigung der Materie, eine vollkommene Harmonie in
dieser goldenen Dämmerung, die man nicht mehr vergißt. Und dieses
wohltuend Maßvolle waltet dann auch im Kloster vor, in seinen weiten,
steingepflasterten Gängen, den schweren schwarzen Holztüren, der schön
proportionierten Bibliothek, dem abgeschiedenen Klosterhof, und man geht
durch diese kühlen, von dicken Wänden gegen Lärm und Laut geschützten
Gänge wie durch eine andere Zeit. Man hat vergessen, daß man in einer
südlichen Welt ist jenseits des Äquators und unter anderen Sternen. Man
könnte glauben in einem schweizer oder deutschen Benediktinerkloster,
diesen uralten Refugien der Bücherfreunde, vor sich hin zu träumen. Da
plötzlich an einem Fenster erinnert einen der Blick auf herrlichste Weise, wo
man sich befindet: mit seinen Wolkenkratzern und Palais, mit seinen
überfüllten Straßen dehnt sich in weitem Umkreis das Häusergewirr einer
modernen Metropole unter der grünen Wacht seiner Berge. In der Tiefe dehnt
sich die Bucht mit ihren Schiffen und Inseln und funkelt das tropische Meer;
wie überall erlebt man in Rio an allen Stellen und auch den abgesondertsten
und einsamsten diese unvergleichliche Zwiefalt von Stadt und Landschaft,
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197