Page - 129 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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werden, die sechsstöckigen Häuser setzen entweder neue Stockwerke auf oder
werden völlig umgestaltet; was vor dreißig Jahren mächtig und sogar
monströs erschienen, wirkt heute klein und im Stil antiquiert und altmodisch.
Die Oper, ganz in den Schatten gedrängt, kann ihre Proportionen nicht mehr
entfalten, das Kunstmuseum und die Bibliothek haben ihre Superiorität
verloren, und wie bei den Pariser Innenboulevards, der Berliner
Friedrichstraße, der Londoner Regent Street beginnen die Luxusgeschäfte vor
dieser wilden Betriebsamkeit sich in stillere Nebengassen zurückzuziehen.
Die Prunkstraße ist heute nicht viel mehr als die obligate Verkehrsstraße und
Durchgangsstraße ohne besonderes Cachet und ohne künstlerische
Persönlichkeit; gerade was ihr als Charakter zugedacht war, die Vornehmheit,
ist verloren, weil sie heute einzig der Zeit zu dienen sucht und ihr doch nicht
mehr genügt.
Um ihren immer mächtigeren Rhythmus voll entfalten zu können, brauchte
die Stadt darum neue und breitere Boulevards außer diesem einen, und sie
schafft sie sich in ihrer ständigen Atemnot mit entschlossener Kraft. Rechts
und links – die Pläne sind wirklich grandios in ihrer Verwegenheit – stößt sich
Rio von innen heraus immer neue Avenuen frei, ganze Häuserblöcke
wegfegend, wie eine vorwärtsrasende Lokomotive ein papiernes Blatt. Hügel
werden abgetragen, ganze Karrees von Häusern der Spitzhacke ausgeliefert,
Felsen mit Tunnels durchbohrt, die Berge empor in zementenen Serpentinen
breite Verbindungen gebahnt. Rechtzeitig hat hier eine vorausdenkende
Verwaltung erkannt, daß es nichts nützt, mit Raum zu sparen, indem man die
Häuser höher türmt, wenn gleichzeitig die Stadt sich wie ein überkochender
Topf weit und weiter hinaus ins Land ergießt. Die alten Hauptstraßen, die Rua
Carioca und Catete und Laranjeiras, die nach Tijuca und Isidoro und Meyer
halten den Verkehr mehr auf als sie ihm dienen, und von dem neuen
Wohnviertel in das Herz der Stadt fährt man mit dem Auto eine halbe Stunde
und noch mehr. Es mußte also Raum gewonnen werden um jeden Preis, und
am nachgiebigsten, am gefälligsten erwies sich noch das Meer. Einer Bucht,
die sich auf Meilen dehnt, zweihundert und sogar fünfhundert Meter durch
Aufschüttung fortzunehmen, hieß dem unendlichen Meer nicht viel nehmen
und doch der Stadt unendlich viel gewinnen. So entstanden die großen
Strandboulevards, die heute den Blick umranden und durch den Blick auf das
Meer und die Landschaft, geschmückt mit Bäumen, durchzogen von Gärten,
mit ihren immer abwechslungsvollen Formen dem modernen Rio als Entgelt
für seine alte Romantik eine neue Schönheit geben. Sie wirken wie der weiße
Rand eines Buches um den gedruckten Text. Jede Seite dieses wie von Gottes
Hand aufgeschlagenen Buches sagt eine andere Schönheit aus, und man wird
nicht müde, sie immer und immer wieder aufzublättern. Dank der bizarren
Formung, in der sich in fünffachen und sechsfachen Buchten das Meer in die
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197