Page - 141 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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herum, Ziegen und hagere Katzen, räudige Hunde und knochige Hühner, das
Spülwasser rinnt und tropft trüb ohne Unterlaß den Felsen hinab – fünf
Minuten von einem Luxusstrand oder einem Boulevard meint man inmitten
eines polynesischen Urwalddorfes oder in einem afrikanischen Kral zu sein.
Man hat das Summum an Primitivität gesehen, die niederste Form des
Hausens und Lebens, eine Form, die man in Europa oder Nordamerika kaum
mehr für glaubhaft gehalten. Aber sonderbar – der Anblick hat nichts
Bedrückendes, nichts Abstoßendes, nichts Aufreizendes, nichts
Beschämendes. Denn diese Neger fühlen sich hier tausendmal glücklicher als
unser Proletariat in seinen Mietskasernen. Es ist ihr eigenes Haus, sie können
dort tun und lassen, was ihnen beliebt, abends hört man sie singen und lachen
– sie sind hier ihre Herren. Kommt ein Grundbesitzer oder eine Kommission,
die sie vertreibt, um hier eine Straße oder ein modernes Wohnviertel
anzulegen, so ziehen sie gleichmütig auf einen andern Berg. Nichts hindert
sie, das dünne Haus gleichsam auf ihrem Rücken mitzunehmen. Und dann:
weil sie hoch auf den Bergen liegen, an den unzugänglichsten Kanten und
Ecken, haben diese Favellas den schönsten Blick, den man sich denken kann,
denselben Blick wie die kostbarsten Luxusvillen, und es ist dieselbe üppige
Natur, die hier ihr winzigstes Stückchen Grund mit Palmen überhöht und mit
Bananen großmütig speist, jene wunderbare Natur von Rio, die es der Seele
verbietet, schwermütig und unglücklich zu sein, weil sie unablässig tröstet mit
ihrer weichen, beschwichtigenden Hand. Wie oft bin ich diese glitschigen,
lehmigen Stufen hinaufgeklettert in diese Negerdörfer, und nie habe ich hier
einen unfreundlichen, einen unfreudigen Menschen gefunden. Ein
sonderbares, ein unvergleichliches Stück Rio wird mit
diesen favelasverschwinden, und ich kann mir die Hügel von Gávea, den alten
Morro kaum denken ohne diese kleinen, dem Felsen kühn aufgeklebten
Dörfer, die mit ihrer Primitivität daran erinnern, wie vieles an Zuviel wir
haben und fordern, und daß selbst im Minimum der Existenz wie in einem
Tautropfen sich die ganze Vielfalt des Lebens zusammenfassen kann.
Auch eine andere Kuriosität von Rio wird bald dem zivilisatorischen
Ehrgeiz und vielleicht auch der Moral zum Opfer fallen – wie in so vielen
Städten Europas, in Hamburg, in Marseille: der eine Straßenzug, von dem
man nicht spricht, die Mangue, der große Liebesmarkt, das yoshivara von
Rio. Daß doch auch hier noch in letzter Stunde ein Maler käme, um diese
Straßen festzuhalten, wenn sie abends unter den Sternen mit grünen, roten,
gelben, weißen Lichtern und wehenden, fliehenden Schatten schimmern, ein
phantastischer, ein orientalischer Anblick, wie ich ihn kaum ähnlich im Leben
gesehen, und überdies noch geheimnisvoll durch die aneinandergeketteten
Geschicke! Fenster an Fenster oder vielmehr Tür an Tür stehen und warten
hier wie exotische Tiere hinter den Gitterstäben tausend oder sogar
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197