Page - 154 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
Image of the Page - 154 -
Text of the Page - 154 -
Verfügung haben. Das Kapital strömt dem Unternehmungsgeist wieder willig
nach, ein Rad greift ins andere, und so wird der Umschwung von Jahr zu Jahr
immer rascher; vier Fünftel all dessen, was heute im ganzen Lande industriell
und organisatorisch geleistet wird, hat hier seinen Handgriff und seinen
Impetus. São Paulo hält heute mehr als jeder andere Bundesstaat Brasiliens
die Wirtschaft in Schwebe, es ist gewissermaßen sein Muskelzentrum, das
Organ seiner Kraft.
Nun ist der Muskel im Organismus zwar eines der notwendigsten
Elemente, aber an sich kein schönes Organ. Wer sich von der Stadt São Paulo
besondere ästhetische, sentimentale oder pittoreske Eindrücke erwartet, sei
gewarnt; es ist eine Stadt, die der Zukunft entgegenwächst und so unruhig und
ungeduldig, daß sie für ihre Gegenwart kaum viel Sinn hatte und noch
weniger für ihre Vergangenheit. Wer etwas Historisches hier sucht, wird es
sowenig finden wie in Houston oder einer der andern nordamerikanischen
Petroleumstädte; selbst das alte Kollegium der Stadtbegründer, das wie ein
Pantheon pietätvoll hätte bewahrt werden sollen, ist längst irgendeinem
Zweckbau zum Opfer gefallen. Von seinem siebzehnten, seinem achtzehnten
Jahrhundert hat São Paulo sich soviel wie nichts bewahrt, und wer auch nur
einen Überrest von dem paulistischen Wohntypus des neunzehnten
Jahrhunderts sehen will, möge sich beeilen, denn mit einer fast
erschreckenden Geschwindigkeit wird hier weggeräumt, was noch an gestern,
an vorgestern erinnert; manchmal hat man das Gefühl, nicht in einer Stadt zu
sein, sondern auf einem gewaltigen Bauplatz. Auf allen Seiten, nach Osten
und Westen und Süden und Norden quellen die Häuser in die Landschaft über,
und in der inneren City, im Geschäftsviertel, stülpt sich Straße nach Straße
um; jemand, der vor fünf Jahren hier gewesen ist, muß sich zurechtfragen und
zurechtfinden wie in einer neuen Stadt. Überall ist alles zu eng, zu nieder, zu
klein geworden, die Straßen verlangen gebieterisch, breiter zu werden, und
quetschen die Gebäude in die Höhe empor, Unterführungen müssen den
Automobilen einen neuen Weg ins Freie bahnen, überall verändert sich alles
eigenwillig und mit einer gewissen egoistischen Hast; so hat man noch heute
hier das lebendige Bild von dem Werden und Sichumformen einer echten
Kolonisten- und Immigrantenstadt. Nicht wie bei uns in Europa sind diese
Städte langsam Ring um Ring um ein Zentrum gewachsen, sondern
improvisatorisch, hastig, aufs Geratewohl. Irgendeiner hatte,
herübergekommen, ein wenig Geld verdient; Zinshäuser waren keine zur
Stelle, so baute er rasch (der Grund kostete nicht viel und ebensowenig die
Arbeit) irgendwohin ein Haus, eines dieser kleinen, kunstlosen Häuser, wie
man sie hier überall sieht, die ganze Küste, das ganze Land entlang; jedes nur
immer ein offener Laden und darüber ein Stockwerk mit zwei, drei Zimmern,
und wenn der Besitzer ein Italiener war, so strich er noch mit scharfen Farben,
154
back to the
book Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197