Page - 156 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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Jahrzehnten in einem neuen Sinne schön zu werden. Schon jetzt, wenn man
von einem der HochhĂ€user die leichtgewellte weite FlĂ€che ĂŒberblickt,
gewinnt man allerhand erfreuliche Ausblicke; aber das Wesentliche ist in SĂŁo
Paulo, dieser typischen Entwicklungsstadt, das Werdende und nicht das schon
Vollendete; stÀrker als selbst in Nordamerika und hier unten nur Àhnlich in
Montevideo habe ich das PhÀnomen einer Stadt gesehen, die sich
gewissermaĂen umstĂŒlpt und völlig peau neuve macht. Wenn man also auf
dem Begriff der Schönheit durchaus beharren will, so kann man die São
Paulos nicht eine vorhandene, sondern nur eine werdende nennen, eine nicht
so sehr optische als energetische und dynamische, eine Schönheit und Form
von morgen, die man durch das Heute eben jetzt mit einer ungeduldigen
Gewalt durchbrechen fĂŒhlt.
Den Sinn und die PrÀgung gibt zunÀchst dieser Stadt noch die Arbeit. São
Paulo ist keine GenieĂerstadt und nicht auf ReprĂ€sentation eingestellt, sie hat
wenig Promenaden und keine Korsos, wenig Ausblicke und
VergnĂŒgungsstĂ€tten, und auf den StraĂen sieht man fast nur MĂ€nner, hastige,
eilende, tÀtige MÀnner. Wer hier nicht arbeitet oder zu GeschÀften kommt,
weiĂ nach einem Tage nicht mehr wohin mit seiner Zeit. Der Tag hat hier
doppelt soviel Stunden wie in Rio und die Stunde doppelt soviel Minuten,
weil jede mit TĂ€tigkeit bis an den Rand vollgepreĂt ist. Hier gibt es alles
Neue, alles Moderne, ein gutes Kunsthandwerk und sehr erlesene
LuxusgeschĂ€fte, aber man fragt sich, wer hier Zeit hat fĂŒr Luxus, fĂŒr
GenieĂen statt Verdienen. UnwillkĂŒrlich ist man an Liverpool, an Manchester
erinnert, an diese Nur-Arbeits-StÀdte, und in der Tat verhÀlt sich São Paulo zu
Rio de Janeiro wie Mailand zu Rom, wie Barcelona zu Madrid, beides nicht
die HauptstĂ€dte, nicht der Sitz der Verwaltung, nicht die HĂŒter der Kunstwerte
des Landes, aber den Residenzen ĂŒberlegen durch werktĂ€tige Energie. Die
eine Provinz SĂŁo Paulo leistet â auch dank des kĂŒhleren Klimas, das den
eingewanderten EuropĂ€ern nichts von ihrer AktivitĂ€t nimmt â allein
industriell und kaufmĂ€nnisch mehr als der GroĂteil des ĂŒbrigen Landes, sie ist
moderner, fortschrittlicher als alle andern und deshalb nordamerikanischen
oder europÀischen StÀdten Àhnlicher durch ihre intensive Organisation. Nichts
von der wundervollen Weiche Rios, von dieser AtmosphÀre, die stÀndig zum
Schauen und zu schönem MĂŒĂiggang verlockt; die MusikalitĂ€t, die jene helle
Stadt und die ganze Bucht von Guanabara umschwebt, ist hier ersetzt durch
Rhythmus, einen starken, heftigen Rhythmus, den Herzschlag eines LĂ€ufers,
der vorwÀrts, vorwÀrts rennt und sich an der eigenen Geschwindigkeit
berauscht. Was ihr an Schönheit noch fehlt, ist aufgewogen durch Energie, die
hier in diesen tropischen Zonen viel auffÀlliger und wertvoller wird, und was
noch wesentlicher ist: diese Stadt weiĂ, daĂ sie sich ihre Form erst erobern
muĂ, und da die Paulisten eine starke RivalitĂ€t gegen Rio de Janeiro beseelt,
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen StraĂen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- GĂ€rten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf SĂŁo Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen GoldstÀdten 167
- Flug ĂŒber den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197