Page - 158 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
Image of the Page - 158 -
Text of the Page - 158 -
Bestrebung zu künstlerischer Tätigkeit wird von den Leitern gefördert, ein
ganzes Orchester hat sich geformt, in Sälen sieht man ihre Zeichnungen, und
so gibt sogar in einem Lande, das in den schwerer erfaßbaren Zonen noch
ziemlich viel Analphabeten zählt, das Gefangenenhaus Gelegenheit
nachzuholen, was die Schule versäumte. Nichts Musterhafteres kann man sich
erdenken als diese Anstalt, die für sich allein schon den europäischen
Hochmut korrigieren könnte, bei uns seien alle Einrichtungen die
perfektioniertesten der Welt, und doch – mit entlastetem Atemzug saugt man
die Luft ein, sobald endlich die letzte von den vielen schweren Eisentüren, die
man durchschritten, hinter einem zufällt und man wieder Freiheit atmet und
freie Menschen sieht.
Mit einem ähnlichen Atemzug der Entlastung verläßt man auch die
Schlangenfarm zu Butantan, obwohl man Großartiges dort gesehen und
Wesentliches gelernt. Was dort das große Publikumsschauspiel ist – nichts
lieben ja die Menschen mehr, als sich zu grauen, wenn es gleichzeitig nicht
gefährlich ist – hatte mir wenig zu sagen: wie man die Giftschlangen dort aus
ihren Höhlen holt, mit Stangengriffen faßt und den Wehrlosen das Gift
auszieht. Dies hatte ich Vorjahren schon in Indien gesehen, und jedesmal ist
es mir gräßlich, wenn der Mensch aus der Wehrlosigkeit eines überwältigten
Tieres ein Schaustück oder eine Unterhaltung formt. Aber längst ist die
Anstalt von Butantan über die ursprüngliche Absicht hinausgewachsen, einzig
der Beobachtung der Schlangen und der Erzeugung von Heilserum gegen die
vielen Giftbisse zu dienen; sie hat sich in den letzten Jahren zu einem
Forschungsinstitut größten Stils entwickelt, in dem mit den modernsten
Apparaten die hervorragendsten Fachleute arbeiten; ich habe in dieser einen
Stunde, da mir die verschiedenen Versuche der Umpflanzungen, der
chemischen Zerlegungen erklärt wurden, mehr gelernt als in Jahren durch
Bücher; immer ist für uns Laien die sinnlich optische Arbeit an dem Objekt
die einzige, die uns den abstrakten Problemen am ehesten begrifflich
entgegenführt. Und weil es eben das Sinnliche, das Optische ist, das mir
immer am stärksten die Phantasie in Erregung setzt, so hat mich nichts dort so
beeindruckt als eine einzige mittelgroße Flasche, mit kleinen weißlichen
Kristallen gefüllt: es ist das Gift von achtzigtausend Schlangen, das da in
konzentriertester kristallisierter Form in dieser Flasche bewahrt ist, und das
furchtbarste aller Gifte. Jedes dieser kaum wahrnehmbaren Körnchen,
deren jedes unter dem Fingernagel spurlos verschwinden würde, kann leicht
in einer Sekunde einen Menschen töten. Tausendfacher als in den riesigsten
Granaten ist die Vernichtung in dieser einzigartigen, furchtbaren, dieser
unersetzbaren Flasche zusammengedrückt, ein Wunder, größer als in jenem
berühmten Märchen aus Tausendundeiner Nacht – nie hatte ich den Tod in so
konzentrierter Form gesehen und hunderttausendfach in Händen gehabt wie in
158
back to the
book Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197