Page - 172 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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Glockenruf, kein Vogelsang – immer nur der Urton des Anfangs in dieser
leeren, unbeseelten Welt, die den Menschen noch nicht zu kennen scheint.
Aber dennoch liegt in dieser einsamen, wildschönen Landschaft etwas, was
die Phantasie merkwürdig irritiert; man spürt, daß hier in Erde und Stein und
Fluß ein besonderes Geheimnis sich verbirgt. Ein merkwürdiges Leuchten
geht von den Bruchstellen der Berge aus, ein Funkeln von Erz und Metall.
Selbst ohne daß man es von Buch und Bildung wüßte, ahnt man an dem
schillernden Glanz, daß diese Berge Erz in sich schließen, einen noch
ungehobenen und kaum errechenbaren Reichtum an Metall. Denn schon die
Straße selbst verrät ihn mit ihrem pulvrigen Lehm, der von Eisen so dunkelrot
gesättigt ist, daß bereits nach kurzer Fahrt das Automobil purpurn leuchtet
wie der feurige Wagen Elias’. Und es verrät ihn der Fluß, der Rio das Velhas,
der schwer und satt den glitzernden Sand mit sich hinschwemmt; funkelnde
Unterwelt voll kostbarer Quarze ist hier verborgen, und Jahrzehnte, vielleicht
Jahrhunderte wird es dauern, ehe sie sich aufschließt der menschlichen
Ungeduld. Aber noch stört kein Spatenschlag, kein Maschinenrattern die
Einsamkeit; hinauf, hinab geht der Weg durch das steinerne Gewinde, hinauf,
hinab, und schon ist man derart gewöhnt an diese großartige Unbeseeltheit,
daß man menschliche Siedlung erst wieder im Talland erwartet: hier oben, so
meint man, lebt niemand und hat niemals ein Mensch gewohnt.
Da plötzlich an einer Kurve leuchtet etwas auf wie ein weißer Doppelblitz:
die beiden hellen Türme einer schlanken schönen Kirche. Und man erschrickt
fast vor diesem jähen Einbruch menschlicher Vollendung in diese harte
strenge Einsamkeit. Aber da, am Nachbarhügel, ebenso leicht und schlank
und weiß, eine zweite, eine dritte. Es sind die elf Kirchen, die die einstige
mächtige Stadt Vila Rica beschirmten und nun das kleine schlafende
Städtchen Ouro Preto. Sie bieten zuerst einen unwirklichen Eindruck, diese
ragenden Kirchen, die frei und stolz ihre Schönheit in den Himmel heben,
während unter ihnen etwas klein und ungewiß liegt wie ein vergessener oder
weggeworfener Überrest – diese wie vom Vogel Greif des Märchens
hierhergetragene Stadt, die plötzlich müde geworden war und, ausgeblutet
von ihren Menschen, sich nicht mehr aus ihrer Erschöpfung aufrichten
konnte. Nichts hat sich hier geändert, während in Rio de Janeiro, in São Paulo
man jede Stunde ein neues Haus baut und sich sonst überall die Dimensionen
mit tropischer Wachstumskraft ins Phantastische vermehren; auf dem
Hauptplatz mit dem einstigen Palast des Gouverneurs, der über
hunderttausend Menschen gebot, schatten ein paar Leute vorüber und
verlieren sich in den engen holprigen Nebengassen, Maulesel traben genau
wie zur Kolonialzeit in langen Zügen, einer hinter dem andern mit ihrer Last
von Holz, in dunklen Stuben arbeitet der Schuster mit gleichem Pech und
Draht und Werkzeug, wie sein Urahn als Sklave oder Sklavensohn es getan.
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197