Page - 173 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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Die Häuser scheinen so müde, daß man meint, sie lehnten sich nur so nah und
nieder aneinander, um eines das andere zu stützen; ihr Verputz ist so alt und
grau, so abgeblättert und zerfaltet wie ein Greisenantlitz. Man weiß, auf dem
steinigen, stockigen Pflaster, in dem hier und in Mariana die Gäßchen auf und
nieder steigen, sind die Schritte der Großväter und Ahnen derselben
Menschen im gleichen Kleid zu gleichem Werk gegangen; spät am Abend
scheint es einem gespenstischerweise, als wären es noch die Menschen von
einst oder ihre Schatten. Manchmal wundert man sich, daß die Glocken an
den Kirchen die Stunden zählen, denn wozu sie zählen, die Zeit, wenn sie
stille steht und stockt? Hundert Jahre, zweihundert Jahre scheinen hier nicht
mehr als ein Tag. Man kommt zum Beispiel vorbei an einer Reihe verbrannter
Häuser; ohne Dach, ohne Holzsparren stehen rauchgeschwärzt die nackten
und halb niedergefallenen Mauern. Ein Feuer, so glaubt man, hätte dort vor
einer Woche, vor einem Monat gewütet, und man habe sich noch nicht die
Mühe genommen, den Schutt wegzuräumen. Aber dann wird man belehrt, es
seien dies doch die Häuser, die im Juli 1720 der Gouverneur Conde de
Assumar niederbrennen ließ. Seit diesen 220 Jahren hat sich keine Hand
gerührt, weder sie neu aufzubauen noch sie niederzureißen. Alles ist
geblieben in Ouro Preto, in Mariana, in Sabará, wie es war zur Zeit der
Sklaven und des Goldes. Mit unsichtbaren Flügeln, ohne sie zu berühren, ist
die Zeit über die verlassenen Goldstädte dahingefahren.
Aber gerade dieses Stehenbleiben in der Zeit gibt heute diesen verlassenen
Schwesterstädten von Ouro Preto, Mariana, Sabará, Congonhas do Campo
und São João d’El-Rei ihren einzigartigen Reiz. Wie sonst in einem Museum
hinter gläserner Vitrine ist hier inmitten einer vielfältigen Landschaft das
Bildnis der kolonialen Zeit und Kultur derart unversehrt bewahrt wie an
keiner anderen Stelle Amerikas und vielleicht noch eindrucksvoller als an
jedem anderen Ort; diese alten Minenstädte sind heute das Toledo, das
Venedig, das Salzburg, das Aigues-Mortes Brasiliens, bildhaft gewordene
Geschichte und dazu noch Geschichte einer eigenartigen nationalen Kultur.
Denn – so unwahrscheinlich es klingt – in diesen abgelegenen, damals durch
keine Straße mit der Küste, mit der Welt verbundenen Städten, in denen nur
wilde, ungebildete, einzig nach Gold und raschem Gewinn gierige Abenteurer
sich zusammengerottet hatten, war in der kurzen Zeit der Blüte eine ganz
persönliche Kunst entstanden; die Kirchen und Kapellen dieser fünf Städte,
von einer einzigen Gilde ansässiger Künstler geschaffen, gehören zu den
eigenartigsten Denkmälern der kolonialen Vergangenheit, die der neue
Weltteil besitzt, und die gesehen zu haben, auch eine ziemlich umständliche
Reise lohnt.
An und für sich haben diese hellen, schön proportionierten Kirchen, die
sich von den Hügeln von Ouro Preto, von Sabará, von Congonhas, von
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197