Page - 175 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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seinen beiden Negersklaven in die Werkstatt oder in die Kirchen tragen, und
sie stützen ihm den unsicheren Stand seiner verstümmelten Füße, sie binden
ihm an die fingerlosen Hände den Meißel, den Pinsel, damit er arbeiten kann,
und erst wenn die Dunkelheit niedergesunken ist, führen sie ihn in der Sänfte
wieder in sein Haus zurück. Denn der »Aleijadinho« weiß um das Grauen,
das von ihm ausgeht. Er will keinen Menschen sehen und von keinen
Menschen gesehen werden. Er will nur seine Arbeit, die ihn vergessen läßt an
sein dunkles, sein unerträgliches Schicksal, er lebt nur für seine Arbeit und
lebt nur für sie und durch sie bis zu seinem vierundachtzigsten Jahr.
Erschütternde Tragödie eines Künstlers, in dessen düsterer Seele vielleicht
ein wahrhaftes Genie verschlossen war, und dem ein böswilliges Schicksal
versagte, seine letzten, seine eigentlichen Möglichkeiten zu entfalten.
Vielleicht war in diesem verstümmelten Mulatten tatsächlich ein Bildhauer
trächtig, dessen Werke der ganzen Welt gegolten hätten. Aber in ein
abgelegenes Bergdorf mitten in tropische Einsamkeit verschlagen, ohne
Lehrer, ohne Meister, ohne mithelfende Kameraden, ohne Kenntnis, ja ohne
Ahnung der großen Vorbilder kann dieser arme Bastard nur mühsam und auf
unsicheren Wegen sich wirklich gültiger Leistung annähern. Einsam wie
Robinson auf seinem Eiland in der kulturellen Wildnis seines
Goldgräberdorfs hat Lisboa nie eine griechische Statue gesehen, nie selbst
eine Nachbildung Donatellos oder eines seiner Zeitgenossen. Er hat nie die
weiße Fläche des Marmors gefühlt, er kennt nicht die fördernde Hilfe des
Erzgießers; nie steht ein Mitbruder ihm zur Seite, ihn die Gesetze der Kunst
zu lehren und die von Generation zu Generation überlieferten Geheimnisse
der Werktechnik. Wo die andern sich fördern durch Zuspruch, sich steigern
durch ehrgeizigen Wettbewerb, steht er allein in einer seelenmörderischen
Einsamkeit und muß suchen, erarbeiten, erfinden, was die anderen seit
Jahrhunderten längst fertig und vollendet vorgefunden. Aber der Haß gegen
die Menschen, der Abscheu vor seiner eigenen widrigen Gestalt treibt ihn
tiefer und tiefer in die Arbeit hinein und auf qualvoll langsamem Wege sich
selber entgegen. Während seine ornamentalen Plastiken nur geschmackvoll,
nur handwerklich kunstvoll sind, aber in den Figuren im leeren Schema
des Barock beharren, erreicht er im siebzigsten, im achtzigsten Jahr eigenes
persönliches Format. Die zwölf großen Statuen in pedra de sabão, in jenem
merkwürdigen weichen, aber der Zeit standhaltenden Seifenstein, welche den
Stiegenaufgang der Kirche von Congonhas krönen, haben trotz all ihrer
technischen Fehler und Unbeholfenheiten volle Wucht und Gewalt. Genial in
die Szenerie hineinkomponiert, atmen sie hier im Freien (während sie in der
Gipsrepoduktion in Rio de Janeiro starr wirken) in starker Bewegung; eine
wilde Seele offenbart sich in ihren herrischen und ekstatischen Gesten. Mühe
und Qual eines dunklen und verstümmelten Lebens ist in ihnen zum
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197