Page - 182 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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sich erdenken. Aber mit diesen winzigen Flößen steuern die Leute verwegen
weit hinaus ins Meer man kann es nicht fassen – und man erzählt die heitere
Geschichte, wie ein amerikanischer Dampfer, als er ein solches Floß mit
seinem armen Segel weitab vom Lande sah, sofort beigedreht habe in der
Meinung, er müsse Schiffbrüchige retten. Alles spielt hier in den buntesten
Formen durcheinander, heute und gestern. Da ist die alte Universität mit ihrer
hochberühmten Fakultät, die älteste des Reiches, die Bibliothek und der
Palast und die Hotels und der moderne Sportklub. Und zwei Straßen weiter,
und man lebt in portugiesischer Sphäre; kleine, niedere Häuschen, überfüllt
mit Menschen und Leben, die tausend Formen des Handwerks und bald
dahinter schon die mocambos, die Negerhütten zwischen ihren
Bananensträuchern und Brotbäumen. Da sind asphaltene Straßen und daneben
das katzenköpfige Pflaster verschollener Zeiten; in zwei, in drei, in vier
verschiedenen Jahrhunderten kann man in Bahia innerhalb von zehn Minuten
zugleich sein, und jedes wirkt gleich echt und natürlich. Denn das ist der
eigentliche Zauber von Bahia: alles ist hier noch echt und unbeabsichtigt; die
sogenannten »Sehenswürdigkeiten« drängen sich dem Fremden nicht auf, sie
sind unmerklich eingeschmolzen in das Ensemble. Alt und neu, heute und
gestern, vornehm und primitiv, 1600 und 1940, all das fließt ineinander in ein
einziges flutendes Bild, das überdies noch umrahmt ist von einer der
friedlichsten, der lieblichsten Landschaften der Welt.
Das Pittoreskeste im ständig Pittoresken sind die Bahianerinnen, die
mächtigen dunkeläugigen Negerinnen mit ihrer eigenartigen Tracht. Man
kann es eigentlich nicht Kostüm nennen, denn Kostüm meint schon ein in
bestimmter Absicht oder bei bestimmtem Anlaß getragenes Kleid. Aber die
Bahianerinnen, auch die ärmsten, tragen immer ihre Tracht, tragen sie Tag für
Tag, und man kann sich keine pompösere erdenken. Sie ist mit nichts
vergleichbar, nicht afrikanisch und nicht orientalisch und nicht portugiesisch,
sondern alles zugleich. Ein farbiger Turban im Haar, mit raffinierter Kunst
geschlungen, rot, grün, gelb, blau oder gefleckt, aber immer grell, eine bunte
Bluse wie die der slovakischen und ungarischen Bäuerinnen, darunter
glockenförmig ausschwingend ein gesteifter, riesig breiter Rock – man kann
den Verdacht nicht loswerden, die Sklavenahnen dieser Negerinnen hätten im
Zeitalter des Reifrocks bei ihren portugiesischen Damen diese Krinolinen
gesehen und als Sinnbild vornehmer Pracht in ihren billigen Kattunkleidern
bewahrt. Ein Tuch noch über die Schulter, dramatisch geworfen, das auch
gleichzeitig als Unterlage dient, wenn sie auf dem Haupt die Wasserkrüge
oder mächtige Körbe tragen, ein paar klirrende Armbänder aus billigem
Metall: so geht jede dieser schwarzen Bahianerinnen, aber jede in anderen
Farben, anderen grellen Nuancen durch die Straßen. Doch das Imposante liegt
eigentlich gar nicht im Kostüm, es ist die Haltung, in der sie es tragen, ihr
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197