Page - 188 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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unten am Wege die Spitze des Zuges gesichtet sei, entstand eine Explosion
des Jubels, wie ich es selten gesehen. Die schwarzen Kinder patschten in die
Hände und stampften vor Freude, die Erwachsenen schrien viva o Senhor do
Bomfim, die ganze breite Kirche dröhnte für eine Minute von diesem
Jubelschrei. Aber noch war der Zug weit. Die Erregung wuchs, man konnte es
an den gespannten Gesichtern sehen, immer mehr ins Ekstatische. Bei jedem
Böllerschuß ein neuer Aufschrei viva o Senhor do Bomfim, ein neues
Klatschen und Tosen und immer heftiger und heftiger: ich muĂź gestehen, daĂź
etwas von dieser gestauten Ungeduld, von dieser geballten Leidenschaft der
Masse in mich überging. Und näher und näher. Endlich traten die ersten
Frauen des Zugs hoheitsvoll durch das Kirchentor, um die Blumen fromm vor
dem Altar niederzulegen – ich sah von oben, wie sie durch ein prasselndes
Spalier von Schreien aufrecht schritten, und rings herum das Wogen der dicht
aneinandergepreßten Köpfe, die tausend aufgerissenen wilden Lippen mit
dem einzigen Schrei viva o Senhor do Bomfim, viva o Senhor do
Bomfim! Man spĂĽrte deutlich eine geballte Erwartung, es war wie ein riesiges
schwarzes Tier, das sich auf seine Beute stĂĽrzen will. Endlich kam der
ersehnte Augenblick. Mit geschulter Energie drängten einige Polizisten die
Menge von der Kirchenmitte zurĂĽck, um die Fliesen freizulegen, die
gescheuert werden sollten. Wasser wurde aus den Krügen – unter
fortwährenden tobenden Jubelrufen der Menge – auf den Boden gegossen,
und die ersten nahmen die Besen. Aber diese ersten taten es noch in einer
frommen, einer demĂĽtigen Art, ganz in der ehrfĂĽrchtigen Absicht, einen
religiösen Dienst zu verrichten; sie verbeugten sich zuerst vor dem Altar und
schlugen das Kreuz. Aber bald waren die andern, die gleichfalls dem Heiligen
dienen wollten, nicht mehr zu halten; die Ungeduld des Wartens, das
Schreien, das Jauchzen hatte sie ekstatisch gemacht. Und plötzlich begann
inmitten der Kirche ein Treiben wie von Hunderten schwarzen Teufeln. Einer
riĂź dem andern den Besen weg, oft waren es zwei, drei, zehn, die an einem
Stiel durch die Kirche fuhren; andere, die keine Besen hatten, warfen sich hin
und rieben mit den nackten Händen die Erde, und jeder, jeder schrie viva o
Senhor do Bomfim, die Kinder mit ihren kleinen, gellenden Stimmen, die
Frauen, die Männer – es war ein Lustschreien schon, die tollste
Massenhysterie, die ich jemals gesehen. Da warf ein Mädchen, sicher sonst
still und zurückhaltend, sich von den Ihren losreißend, die Hände hoch und
gellte, das Gesicht lusthaft wie eine Bacchantin verzĂĽckt, viva o Senhor do
Bomfim, viva o Senhor do Bomfim, bis ihr die Stimme brach. Eine andere, die
vor Schreien und Toben ohnmächtig geworden war, wurde hinausgetragen,
und zwischendurch tobten die tollen Teufel und rieben und schrubbten und
fegten, als sollte ihnen das Blut unter den Nägeln vorspringen – etwas so
ungeheuer Hinreißendes und Ansteckendes war in diesem religiös-lustvollen
Fegen, daĂź ich nicht sicher war, ob ich nicht selbst, wenn ich mich inmitten
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen StraĂźen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf SĂŁo Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug ĂĽber den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197