Page - 189 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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dieser Exaltierten befunden hätte, einen solchen Besen an mich gerissen hätte.
Es war eigentlich die erste Massentollheit, die ich gesehen, und noch
gesteigert in ihrer Unwahrscheinlichkeit dadurch, daß sie in einer Kirche
geschah, ohne Alkohol, ohne Musik, ohne Stimulantien und mitten am Tag
unter einem glorreich strahlenden Himmel.
Aber das ist das Geheimnis von Bahia, daß hier noch von den Ahnen her
sich das Religiöse mit dem Lusthaften im Blute geheimnisvoll verbindet, daß
Erwartung oder monotone Erregung besonders bei den Negern und
Mischlingen solche unerwartete Rauschempfänglichkeit auslöst; nicht zufällig
ist ja Bahia die Stadt der Candomblés und jener Macumba, in der alte, blutige
afrikanische Riten sich mit einem Fanatismus für das Katholische auf
sonderbarste Weise verbinden. Über diese Macumba ist viel geschrieben
worden, und jeder Fremde rühmt sich, durch einen besonderen Freund eine
»echte« gesehen zu haben; in Wirklichkeit hat dieSonderbarkeit, die
Fremdartigkeit dieser Riten, trotzdem die Neger sie vor der Polizei vorsichtig
geheimhalten mußten, den Wert einer Kuriosität erlangt und längst zu solchen
pseudoechten Inszenierungen geführt wie in Indien die Darbietungen der von
Cook für die Fremden engagierten Yogis. Auch die Macumba, die ich
gesehen, war – ich gestehe es ehrlich ein – zweifellos gestellt und inszeniert.
Um Mitternacht in einem Wald über Gestein und Gestrüpp eine halbe Stunde
lang steigend und stolpernd – die Schwierigkeit der Zugänglichkeit soll die
Illusion des Verbotenen und Geheimnisvollen steigern – kamen wir zu einer
Hütte, wo bei spärlichem Licht ein Dutzend Neger und Negerinnen
versammelt waren. Sie schlugen auf Pauken den Takt und sangen und sangen
im Chor eine einzige Melodie, immer dieselbe, immer dieselbe, immer
dieselbe, und schon diese Monotonie erregte und machte ungeduldig. Dann
kam der Zauberer mit seinen Tänzen und seinem Opfer, immer wieder
dazwischen von dem scharfen Zuckerschnaps trinkend und Tabak zerkauend,
und es wurde getanzt und getanzt und getobt bis ins Epileptische, da der erste
hinfiel mit starren Gliedern und verdrehten Augen. Ich wußte in jedem
Augenblick, daß all dies vorbereitet und gelernt war, aber dennoch: durch das
Tanzen, Trinken und vor allem die grauenhafte, nervenaufpeitschende
Monotonie der Musik war Rauschhaftes selbst in dem Spiel, dasselbe
rauschhafte wie in der Kirche Senhor do Bomfim, wo die Lust am Lärm, an
der Ekstase um der Ekstase willen die friedlichsten, stillsten Menschen
überwältigte. Auch hier wie in allem: was in Brasilien sonst schon vom
Neuzeitlichen abgeschliffen, in seinen Ursprüngen verdeckt und von
Europäischem überwachsen ist – all das, das Urtümliche, das Bluthafte und
Ekstatische, verschollene Seelenepochen, ist hier in Bahia in geheimnisvollen
Spuren noch erhalten, und in manchen seltenen Manifestationen spürt man
noch hintergründig seine Gegenwart.
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197