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Winkelstübchen des seligen „Wimmer-" oder „Scholtenoiertels" sich schlafen gelegt, wenn
er nun erwachte u»d, begleitet von dem modernsten Lärm, dem Schellengeklingel der
Tramway, eine der schönsten Straßen dieses Planeten — nnferen ureinzigen „Ring" —
auf und ab spazierte und alsdann in die elegante Lästerallee des neugeschaffenen pittoresken
„Stadtpart" geriethe, wo er, inmitten der aufgedonnerten ,doau inon^o" von den
dominirenden Angelegenheiten des Tages plaudern hörte, verwundert fragen würde: in
welchen ihm ganz unbekannten Welttheil der Zufall ihn verschlagen hätte? „Das soll die
alte Kaiserstadt sein? Das alte Wien, am übelst beleumundeten wasserlosen Flüßchen
gleichen Namens? Das wären Wiener nnd Wienerinnen, seine engeren Landsleute?
Unmöglich!"
So ist es anch. Und doch, und doch! Wer die Urbezirte, die im Volksmunde so
genannten „enter'n Gründe", die bescheidenen Ansiedluugen an den Endpunkten der
lang nnd breit gestreckten Metropole durchwandert oder die herkömmlichen Sammelplätze
des alte» Wien betritt, findet uicht nur ihrer äußeren Erscheinung, fondern auch ihrer
Lebensweise, ihrem Thun und Gehaben, ihren Titten nnd Gebräuchen nach zahlreiche
Mnsterstücke, directe und unverfälschte nnd nnvermischtc Nachkommen des Original-
stammes, die den Typus uus erhalten haben. Hundert- und tausendfältig kommen sie
uns noch in den Weg; in Gang und Blick und Oeberde, in Wort nnd Bewegung mit dem
unvertilgbaren Kennzeichen des „echten Wieners," geben sie nicht nur jenem specifischen
Fleck Erde, auf dem sie sich herumtummeln und wo die Staffage die alte geblieben ist, sie
verschaffen auch dem Gesannntbilde der buuteu Stadt, gerade durch ihre markanten Chargen,
noch immer das Gepräge des „Wienertbums", und man kauu und wird deßhalb,
ungeachtet der vielköpfigen Invasion von Repräsentanten anderer Nacen, Stämme und
Nationalitäten, wenn man von „Wien nnd den Wienern" in ihrer Totalität fpricht,
unter letzteren doch meist nur den — richtigen Wiener im Auge haben.
Was fchmückt und ziert nun den Wiener und gereicht ihm zum Ruhme, und wo
sind die Schattenseiten seines Charakters? Prüfen wir ihn näher nnd begeben wir nns
mitten in das Getümmel der Straße, des Volkslebens.
„Allerweil fidel!" So soll, wie fast allgemein der Glaube, das Motto des Wieners
lauten. Hang znm Wohlleben, zu Vergnügungen, znr Lustbarkeit wurde ihm auf's
Kerbholz gebracht, und was der Sünden gegen „stramme Solidität" noch mehr sind. Wer
waren und wer sind die strengen Tittenrichter? Tind's Neider? Sind's trockene Philister-
seelen? Sind's Lügner nnd Verleumder? Ach, nichts von alle dem! Die Klagen sind uralt
und reichen durch Jahrhunderte zurück uud die diesbezüglichen behördlichen Verfügungen
und Strafandrohungen gegen den „Freß- nnd Tanfteufel" allem gäben eine reichhaltige,
wenn auch monotone Literatnr. Von allzn ungerechte» Verschwärzungeu eines ganzen
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien, Volume 1
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien
- Volume
- 1
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1886
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.13 x 22.72 cm
- Pages
- 348
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch
Table of contents
- Landschaftliche Lage Wiens 3
- Zur Geschichte Wiens 5
- Wiens architektonische Entwicklung 51
- Wiener Volksleben 91
- Die Musik in Wien 123
- Die deutsche Literatur in Wien und Niederösterreich 139
- Das Wiener Schauspiel 169
- Malerei und Plastik in Wien 205
- Wiener Kunstindustrie 263
- Voltswirthschaftliches Leben in Wien 277