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Die geistliche Literatur des XII. Jahrhunderts ist im Donauthalc nicht ursprünglich,
sondern aus fremden Einflüssen erwachsen. Diese Einflüsse kamen zuvörderst aus
Mitteldeutschland und Franken, wo sich die geistliche Dichtung in deutscher Sprache zuerst
aus der Predigt cutwickelt hatte. Sie kamen aber auch ans dem Süden, aus Kä'rntcn, wo
sich gleichfalls im Anschlüsse an dieLiturgie nud unabhängig von der modernen französischen
Theologie eine mehr nationale Richtung der geistlichen Poesie herausgebildet hatte. Das
Donauthalsah feineÄufgabe darin, zwischen beiden Richtungen zu vermitteln. Manvereinigte
Denkmäler sowohl der fränkischen, als der kärntnerischen Literatur in den Handschriften.
Man nahm eine poetische Behandlung des ersten Buches Moses, die sogenannte Kärntner
Genesis, zwar noch auf, aber man bearbeitete sie in so freier Weise, daß die moderne
französische Theologie und die fränkische geistliche Dichtung fast mehr Antheil daran haben
als das zu Grunde gelegte Original. Man gab sich aber weiter nicht mehr die Mühe, eine
kärntnerische Bearbeitnng des zweiten Buches Moses uoll weltlichen und aristokratische»
Sinnes umzuarbeiten, sondern man setzte einen „Moses" eigener Arbeit voll schwer ver-
ständlicher Gelehrsamkeit und mystisch-allegorischer Dentuugssucht an ihre Stelle, welchen
ein anderer Verfasser wieder dnrch die Geschichte Bileams ergänzte. Ebenso spitzfindig,
aber ganz im Sinne der damaligen Theologie handelte die Melker Klansnerin Frau Aua
von den sieben Gaben des heiligen Geistes, welche sie mit den Bestandtheilen des mensch-
lichen Körpers nnd Geistes in Parallele brachte, uud uon Themen wie der Antichrist und
das jüngste Gericht, welche in Mitteldeutschland wiederholt behandelt worden waren;
aber ihre kunstlose Manier und ihr ärmlicher Stil ziehen weniger an als die Naivetät, mit
welcher sich hier »ud da die Weiblichkeit verräth. Der Einfluß der französischen Theologie
danerte fort nnd nahm zu, die Werke ihrer bedeutendsten Vertreter findet man noch hente
in vielen Abschriften der österreichischen Klosterbibliotheken, Auch die Gegner derselben,
wie der Verfasser des „Anegengc", welcher die Schöpfung der Welt, den Snndenfall
uud die Erlösung in stilistisch uud metrisch gewandten, poetisch aber werthlosen Versen
behandelt, konnten sich ihrem Einflüsse nicht entziehen. Selbst die erzählende Dichtung
und die Legende entbehren selten des theologischen Lehrzweckes nnd auch das alte Spiel mit
der Siebenzahl, mit geistlichen Ausdeutungen körperlicher Dinge ic. dauert fort.
Den Stoff zur erzählenden Dichtung lieferten hauptsächlich das Leben des Täufers
Johannes uud Bruchstücke aus dem Leben Christi. Ist es bloßer Zufall, daß man den
Ausdrnck tiefen Schuldbewußtseins und der reuigen Zerknirschung, der sich anderwärts so
häufig vernehmen läßt, in Niederösterreich gänzlich vermißt uud höchstens einer rhetorisch
überhäuften Predigt begegnet, welche ihren Zuhörern die Hölle heiß zu machen sucht?
Dichternamen sind nur wenige auf uns gekommen, ein Priester Arnold hat in einem
abstrus zusammengewürfelten Gedichte von der Siebenzahl und noch allen möglichen
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien, Volume 1
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien
- Volume
- 1
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1886
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.13 x 22.72 cm
- Pages
- 348
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch
Table of contents
- Landschaftliche Lage Wiens 3
- Zur Geschichte Wiens 5
- Wiens architektonische Entwicklung 51
- Wiener Volksleben 91
- Die Musik in Wien 123
- Die deutsche Literatur in Wien und Niederösterreich 139
- Das Wiener Schauspiel 169
- Malerei und Plastik in Wien 205
- Wiener Kunstindustrie 263
- Voltswirthschaftliches Leben in Wien 277