Page - 54 - in Radetzkymarsch
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Manchmal glaubte er, in sich das Blut seiner Ahnen zu fühlen: Sie waren
keine Reiter gewesen. Die kämmende Egge in den harten Händen, hatten sie
Schritt vor Schritt auf die Erde gesetzt. Sie stießen den furchenden Pflug in
die saftigen Schollen des Ackers und gingen mit geknickten Knien hinter dem
wuchtigen Zweigespann der Ochsen einher. Mit Weidenruten trieben sie die
Tiere an, nicht mit Sporen und Peitsche. Die geschliffene Sense schwangen
sie im hocherhobenen Arm wie einen Blitz, und sie mähten den Segen, den
sie selbst gesät hatten. Der Vater des Großvaters noch war ein Bauer gewesen.
Sipolje war der Name des Dorfes, aus dem sie stammten. Sipolje: Das Wort
hatte eine alte Bedeutung. Auch den heutigen Slowenen war es kaum mehr
bekannt. Carl Joseph aber glaubte, es zu kennen, das Dorf. Er sah es, wenn er
an das Porträt seines Großvaters dachte, das verdämmernd unter dem Suffit
des Herrenzimmers hing. Eingebettet lag es zwischen unbekannten Bergen,
unter dem goldenen Glanz einer unbekannten Sonne, mit armseligen Hütten
aus Lehm und Stroh. Ein schönes Dorf, ein gutes Dorf! Man hätte seine
Offizierskarriere darum gegeben!
Ach, man war kein Bauer, man war Baron und Leutnant bei den Ulanen!
Man hatte kein eigenes Zimmer in der Stadt wie die andern. Carl Joseph
wohnte in der Kaserne. Das Fenster seines Zimmers führte in den Hof.
Gegenüber lagen die Mannschaftsstuben. Immer, wenn er in die Kaserne am
Nachmittag heimkehrte und das große, doppelflügelige Tor sich hinter ihm
schloß, hatte er die Empfindung, gefangen zu sein; niemals mehr würde es
sich vor ihm auftun. Seine Sporen klirrten frostig auf der kahlen, steinernen
Stiege, und der Tritt seiner Stiefel widerhallte auf dem hölzernen, braunen,
geteerten Boden des Korridors Die weißen, gekalkten Wände hielten das
Licht des schwindenden Tages noch ein wenig gefangen und strahlten es jetzt
wider, als achteten sie in ihrer kahlen Sparsamkeit noch darauf, daß die
ärarischen Petroleumlampen in den Winkeln nicht früher entzündet würden,
als bis der Abend vollständig eingebrochen wäre; als hätten sie zu rechter Zeit
den Tag gesammelt, um ihn in der Not der Dunkelheit auszugeben. Er machte
kein Licht, Carl Joseph. Die Stirn an das Fenster gepreßt, das ihn von der
Finsternis scheinbar trennte und in Wirklichkeit wie die vertraute, kühle
Außenwand der Finsternis selber war, sah er in die gelblich beleuchtete
Traulichkeit der Mannschaftsstuben. Er hätte gern mit einem von den
Männern getauscht. Dort saßen sie, halb ausgezogen, in den groben,
gelblichen, ärarischen Hemden, ließen die nackten Füße über die Ränder ihrer
Schlaffächer baumeln, sangen, sprachen und spielten Mundharmonika. Um
diese Tageszeit – der Herbst war schon lange vorgerückt –, eine Stunde nach
dem Befehl, anderthalb Stunden vor dem Zapfenstreich, glich die ganze
Kaserne einem riesengroßen Schiff. Und es war Carl Joseph auch, als
schaukelte sie leise und als bewegten sich die kümmerlichen, gelben
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Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik