Page - 84 - in Radetzkymarsch
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›Ich tät’ lieber zu Haus sitzen und aufpassen!‹ sagt der Tattenbach und hält
sich am Sessel fest. Es war übrigens sein Namenstag. Hab’ ich euch’s schon
gesagt?«
»Nein!« riefen alle.
»Also, nun wißt ihr’s: Sein Namenstag war’s grad!« wiederholte Taittinger.
Diese Neuigkeit schlürften alle mit gierigen Sinnen. Es war, als könnte sich
aus der Tatsache, daĂź Tattenbach Namenstag gehabt hatte, eine ganz neue,
günstige Lösung der traurigen Affäre ergeben. Jeder überlegte für sich,
welcher Nutzen aus dem Namenstag Tattenbachs zu ziehen wäre. Und der
kleine Sternberg, durch dessen Gehirn die Gedanken einzeln dahinzuschieĂźen
pflegten wie einsame Vögel durch leere Wolken, ohne Geschwister und ohne
Spur, äußerte sofort, vorzeitigen Jubel in der Stimme: »Aber, dann ist ja alles
gut! Situation total verändert! Namenstag hat er halt gehabt!«
Sie sahen zum kleinen Grafen Sternberg hin, verblĂĽfft und trostlos und
dennoch bereit, nach dem Unsinn zu greifen. Es war äußerst töricht, was der
Sternberg da von sich gab, aber wenn man genau ĂĽberlegte, konnte man sich
nicht daran halten, war da nicht eine Hoffnung, winkte da kein Trost? Das
hohle Gelächter, das Taittinger gleich darauf ausstieß, überschüttete sie mit
neuem Schrecken. Die Lippen halb geöffnet, hilflose Laute auf den stummen
Zungen, die Augen aufgerissen und ohne Blick, blieben sie still, Verstummte
und Geblendete, die einen Augenblick lang geglaubt hatten, einen trostreichen
Klang zu vernehmen, einen tröstlichen Schimmer zu erblicken. Taub und
finster war es rings um sie. In der ganzen groĂźen, stummen, tief verschneiten
winterlichen Welt gab es nichts anderes mehr als die fĂĽnfmal schon
wiederholte, ewig unveränderliche Erzählung Taittingers. Er fuhr fort: »Also,
›ich tät lieber zu Haus sitzen und aufpassen‹, sagt der Tattenbach. Und der
Doktor, wißt ihr, wie bei der Marodenvisit’ und als ob der Tattenbach krank
wär’, streckt den Kopf gegen den Tattenbach vor und sagt: ›Herr Rittmeister,
Sie sind besoffen!‹ –
›Ich tät lieber auf meine Frau aufpassen‹, lallt der Tattenbach weiter.
›Unsereins läßt seine Frau nicht um Mitternacht mit Leutnants spazieren!‹ –
›Sie sind besoffen und ein Schuft!‹ sagt der Demant. Und wie ich aufstehn
will und eh’ ich mich noch rühren kann, fängt der Tattenbach an, wie verrückt
zu rufen: ›Jud, Jud, Jud!‹ Achtmal sagt er’s hintereinander, ich hab’ noch die
Geistesgegenwart gehabt, genau zu zählen.«
»Bravo!« sagte der kleine Sternberg, und Taittinger nickte ihm zu.
»Ich hab’ aber auch«, fuhr der Rittmeister fort, »die Geistesgegenwart, zu
kommandieren: ›Ordonnanzen abtreten!‹ Denn was sollten die Burschen
dabei?«
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Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Ă–sterreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik