Page - 92 - in Radetzkymarsch
Image of the Page - 92 -
Text of the Page - 92 -
den großen, alten Büchern, in denen er gelesen hat, steht der Satz: ›Wer die
Hand gegen seinesgleichen erhebt, ist ein Mörder.‹ Morgen wird einer gegen
mich eine Pistole erheben, und ich werde eine Pistole gegen ihn erheben. Und
ich werde ein Mörder sein. Aber ich bin kurzsichtig, ich werde nicht zielen.
Ich werde meine kleine Rache haben. Wenn ich die Brille abnehme, sehe ich
gar nichts, gar nichts. Und ich werde schieĂźen, ohne zu sehn! Das wird
natürlicher sein, ehrlicher und ganz passend!«
Der Leutnant Trotta begriff nicht vollkommen, was der Regimentsarzt
sagte. Die Stimme des Doktors war ihm vertraut und, nachdem er sich an das
Zivil des Freundes gewöhnt hatte, auch Gestalt und Angesicht. Aber aus einer
ganz unermeĂźlichen Ferne kamen die Gedanken Doktor Demants, aus jener
unermeßlich fernen Gegend, in der Demants Großvater, der weißbärtige
König unter den jüdischen Schankwirten, gelebt haben mochte. Trotta
strengte sein Gehirn an, wie einst in der Kadettenschule in der Trigonometrie,
er begriff immer weniger. Er fĂĽhlte nur, wie sein frischer Glaube an die
Möglichkeit, alles noch zu retten, allmählich matt wurde, wie seine Hoffnung
langsam verglühte zu weißer, windiger Asche, ähnlich den verglimmenden
Netzfäden über dem singenden Gasflämmchen. Sein Herz klopfte laut wie die
hohlen, blechernen Schläge der Wanduhr. Er verstand den Freund nicht. Er
war auch vielleicht zu spät gekommen. Vieles noch hatte er zu sagen. Aber
seine Zunge lag schwer im Mund, von Gewichten belastet. Er öffnete die
Lippen. Sie waren fahl, sie zitterten sachte, er konnte sie nur mit MĂĽhe wieder
schlieĂźen.
»Du dürftest Fieber haben!« sagte der Regimentsarzt, genauso, wie er zu
Patienten zu sprechen gewohnt war. Er klopfte an den Tisch, der Wirt kam mit
neuen Schnapsgläsern. »Und du hast noch das erste nicht getrunken!«
Trotta leerte gehorsam das erste Glas. »Zu spät hab’ ich den Schnaps
entdeckt – schade!« sagte der Doktor. »Du wirst es nicht glauben: Es tut mir
leid, daß ich nie getrunken habe.«
Der Leutnant machte eine ungeheure Anstrengung, hob den Blick und
starrte ein paar Sekunden dem Doktor ins Angesicht. Er hob das zweite Glas,
es war schwer, die Hand zitterte und verschĂĽttete ein paar Tropfen. Er trank in
einem Zug; Zorn erglühte in seinem Innern, stieg in den Kopf, rötete sein
Angesicht. »Ich werde also gehn!« sagte er. »Ich kann deine Witze nicht
vertragen. Ich war froh, wie ich dich gefunden hab’! Ich war bei dir zu Haus.
Ich habe geläutet. Ich bin vor den Friedhof gefahren. Ich hab’ deinen Namen
durch das Tor hineingerufen wie ein Verrückter. Ich hab’ – – –« Er brach ab.
Zwischen seinen bebenden Lippen formten sich lautlose Worte, taube Worte,
taube Schatten von tauben Lauten. Plötzlich füllten sich seine Augen mit
einem warmen Wasser, und ein lautes Stöhnen kam aus seiner Brust. Er
92
back to the
book Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Ă–sterreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik