Page - 96 - in Radetzkymarsch
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der Nachtwind zerblies den Schnee zu Staub, die Sporen Trottas klirrten
sacht, die Sohlen des Doktors knirschten daneben. Sie gingen schnell, als
hätten sie ein bestimmtes Ziel. In ihren Köpfen jagten Fetzen von
Vorstellungen einher, von Gedanken, von Bildern. Wie schwere und flinke
Hämmer klopften ihre Herzen. Ohne es zu wissen, gab der Regimentsarzt die
Richtung an, ohne es zu wissen, folgte ihm der Leutnant. Sie näherten sich
dem Hotel zum goldenen Bären. Sie standen vor dem gewölbten Tor des
Gasthauses. In der Vorstellung Carl Josephs erwachte das Bild vom Großvater
Demants, dem silberbärtigen König unter den jüdischen Schankwirten. Vor
solch einem Tor, einem viel größeren wahrscheinlich, saß er zeit seines
Lebens. Er stand auf, wenn die Bauern anhielten. Weil er nicht mehr hörte,
schrien die kleinen Bauern durch die gehöhlten Hände vor den Mündern ihre
Wünsche zu ihm empor. Sieben Uhr zwanzig, sieben Uhr zwanzig, klang es
wieder. Sieben Uhr zwanzig war der Enkel dieses Großvaters tot.
»Tot!« sagte der Leutnant laut. Oh, er war nicht mehr klug, der kluge
Doktor Demant! Er war vergeblich frei und mutig gewesen, ein paar Tage; es
zeigte sich jetzt, daß er nicht Schluß gemacht hatte. Man wurde nicht leicht
fertig! Sein kluger Kopf, ererbt von einer langen, langen Reihe kluger Väter,
wußte ebensowenig Rat wie der einfache Kopf des Leutnants, dessen Ahnen
die einfachen Bauern von Sipolje gewesen waren. Ein stupides, eisernes
Gesetz ließ keinen Ausweg frei. »Ich bin ein Dummkopf, mein lieber
Freund!« sagte der Doktor. »Ich hätte mich von Eva längst trennen müssen.
Ich habe keine Kraft, diesem blöden Duell zu entrinnen. Ich werde aus
Blödheit ein Held sein, nach Ehrenkodex und Dienstreglement. Ein Held!« Er
lachte. Es schallte durch die Nacht. »Ein Held!« wiederholte er und stapfte
hin und zurück vor dem Tor des Gasthofes.
Durch das junge, trostbereite Hirn des Leutnants schoß blitzschnell eine
kindische Hoffnung; sie werden nicht aufeinander schießen und sich
versöhnen! Alles wird gut sein! Man wird sie zu andern Regimentern
transferieren! Mich auch! Töricht, lächerlich, unmöglich! dachte er gleich
darauf. Und verloren, verzweifelt, mit schalem Kopf, trockenem Gaumen,
zentnerschweren Gliedern stand er regungslos vor dem hin und her
wandelnden Doktor.
Wie spät war es schon? – Er wagte nicht, auf die Uhr zu sehn. Bald mußte
es ja vom Turm schlagen. Er wollte warten. »Wenn wir uns nicht wiedersehn
sollten«, sagte der Doktor, hielt ein und sagte ein paar Sekunden später: »Ich
rate dir, verlaß diese Armee!« Dann streckte er die Hand aus: »Leb wohl! Geh
heim! Ich werde allein fertig! Servus!« Er zog am Glockendraht. Man hörte
aus dem Innern das dröhnende Klingeln. Schon näherten sich Schritte. Man
schloß auf. Leutnant Trotta ergriff die Hand des Doktors. Mit einer
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Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik