Page - 97 - in Radetzkymarsch
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gewöhnlichen Stimme, die ihn selbst verwunderte, sagte er ein gewöhnliches
»Servus!« Er hatte nicht einmal den Handschuh ausgezogen. Schon fiel die
Tür zu. Schon gab es keinen Doktor Demant mehr. Wie von einer
unsichtbaren Hand gezogen, ging der Leutnant Trotta den gewohnten Weg in
die Kaserne. Er hörte nicht mehr, wie über ihm im zweiten Stock ein Fenster
aufgeklinkt wurde. Der Doktor beugte sich noch einmal hinunter, sah den
Freund um die Ecke verschwinden, schloß das Fenster, entzündete alle
Lichter im Zimmer, ging zum Waschtisch, schliff sein Rasiermesser, prüfte es
am Daumennagel, seifte sein Gesicht ein, in aller Ruhe, wie jeden Morgen. Er
wusch sich. Er nahm aus dem Schrank die Uniform. Er kleidete sich an,
schnallte den Säbel um und wartete. Er nickte ein. Er schlief traumlos, ruhig,
im breiten Lehnstuhl vor dem Fenster.
Als er erwachte, war der Himmel über den Dächern schon hell, ein zarter
Schimmer blaute über dem Schnee. Bald mußte es klopfen. Schon hörte er
von fern das Klingeln eines Schlittens. Er näherte sich, er hielt. Jetzt
schepperte die Glocke. Jetzt knarrte die Stiege. Jetzt klirrten die Sporen. Jetzt
klopfte es.
Jetzt standen sie im Zimmer, der Oberleutnant Christ und der Hauptmann
Wangert vom Infanterieregiment der Garnison. Sie blieben in der Nähe der
Tür, der Leutnant einen halben Schritt hinter dem Hauptmann. Der
Regimentsarzt warf einen Blick zum Himmel. Als ein ferner Widerhall aus
ferner Kindheit zitterte die erloschene Stimme des Großvaters: »Höre Israel«,
sprach die Stimme, »der Herr, unser Gott, ist der einzige Gott!« – »Ich bin
fertig, meine Herren!« sagte der Regimentsarzt.
Sie saßen, ein wenig eng, im kleinen Schlitten; die Schellen klingelten
mutig, die braunen Rösser hoben die gestutzten Schwänze und ließen große,
runde, gelbe, dampfende Äpfel in den Schnee fallen. Der Regimentsarzt, dem
alle Tiere zeit seines Lebens sehr gleichgültig gewesen waren, fühlte auf
einmal Heimweh nach seinem Pferd. Es wird mich überleben! dachte er.
Nichts verriet sein Angesicht. Seine Begleiter schwiegen.
Sie hielten etwa hundert Schritte vor der Lichtung. Bis zum »Grünen Platz«
gingen sie zu Fuß. Schon war der Morgen da, aber die Sonne noch nicht
aufgegangen. Still standen die Tannen, den Schnee auf den Ästen trugen sie
stolz, schmal und aufrecht. Von ferne her krähten die Hähne Ruf und
Widerruf. Tattenbach sprach laut mit seinen Begleitern. Der Oberarzt Doktor
Mangel ging hin und her zwischen den Parteien. »Meine Herren!« sagte eine
Stimme. In diesem Augenblick nahm der Regimentsarzt Doktor Demant
umständlich, wie er immer gewohnt war, die Brille ab und legte sie sorgfältig
auf einen breiten Baumstumpf. Merkwürdigerweise sah er dennoch vor sich
deutlich seinen Weg, den angewiesenen Platz, die Distanz zwischen sich und
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Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik