Page - 127 - in Radetzkymarsch
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mochten! Unter den Augen der Behörden und der Gendarmerie versammelten
sich die Sokoln im Innern des Reiches. Diese Sokoln, die der
Bezirkshauptmann für sich »Sokolisten« nannte, wie um aus ihnen, die eine
große Gruppe unter den slawischen Völkern darstellten, eine Art kleinerer
Partei zu machen, gaben nur vor, Turner zu sein und die Muskeln zu
kräftigen. In Wirklichkeit waren sie Spione oder Rebellen, vom Zaren
bezahlt. Im »Fremdenblatt« hatte man gestern noch lesen können, daß die
deutschen Studenten in Prag die »Wacht am Rhein« gelegentlich singen, diese
Hymne der Preußen, der mit Österreich verbündeten Erbfeinde Österreichs.
Auf wen konnte man sich da noch verlassen? Den Bezirkshauptmann fröstelte
es. Und zum erstenmal, seitdem er in dieser Kanzlei zu arbeiten angefangen
hatte, ging er an einem unleugbar warmen Frühlingstag zum Fenster und
schloß es.
Den Bezirksarzt, der in diesem Augenblick eintrat, fragte Herr von Trotta
nach dem Befinden des alten Jacques. Doktor Sribny sagte: »Wenn’s eine
Lungenentzündung wird, hält er’s nicht durch. Er ist sehr alt. Er hat jetzt
vierzig Fieber. Er hat um den Geistlichen gebeten.« Der Bezirkshauptmann
beugte sich über den Tisch. Er fürchtete, Doktor Sribny könnte irgendeine
Veränderung in seinem Angesicht wahrnehmen, und er fühlte, daß sich in der
Tat irgend etwas in seinem Angesicht zu verändern begann. Er zog die
Schublade auf, holte die Zigarren hervor und bot sie dem Doktor an. Er wies
stumm auf den Lehnstuhl. Jetzt rauchten beide. »Sie haben also wenig
Hoffnung?« fragte Herr von Trotta endlich. »Eigentlich sehr wenig, um die
Wahrheit zu sagen!« erwiderte der Doktor. »In diesem Alter–« Er vollendete
den Satz nicht und sah den Bezirkshauptmann an, als wollte er erkennen, ob
der Herr um vieles jünger sei als der Diener. »Er ist nie krank gewesen!«
sagte der Bezirkshauptmann, als wäre das eine Art Milderungsgrund und der
Doktor eine Instanz, von der das Leben abhing. »Ja, ja«, sagte der Doktor nur.
»Das kommt vor. Wie alt mag er sein?« Der Bezirkshauptmann dachte nach
und sagte: »An die achtundsiebzig bis achtzig.« »Ja«, sagte Doktor Sribny,
»so hab’ ich ihn auch geschätzt. Das heißt: erst heute. Solang einer
herumläuft, denkt man, er wird ewig leben!«
Hierauf erhob sich der Bezirksarzt und ging an seine Arbeit. Herr von
Trotta schrieb auf einen Zettel: »Ich bin in der Wohnung Jacques’«, legte das
Papier unter einen Briefbeschwerer und ging in den Hof.
Er war noch niemals in Jacques’ Wohnung gewesen. Sie lag, ein winziges
Häuschen mit einem allzu großen Schornstein auf dem Dächlein, an die
rückwärtige Hofmauer angebaut. Sie hatte drei Wände aus gelblichen Ziegeln
und eine braune Tür in der Mitte. Man betrat zuerst die Küche und dann durch
eine Glastür die Wohnstube. Jacques’ zahmer Kanarienvogel stand auf dem
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Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik