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Radetzkymarsch
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taufte sie wieder dieser junge Mann, sie war ein Kind (und frisch wie der Name). Dennoch machte sie jetzt, aus Gewohnheit, die wehmütige Feststellung, daß sie »viel älter« sei als er: eine Bemerkung, die sie jungen Männern gegenüber immer wagte, gewissermaßen eine tollkühne Vorsicht. Übrigens eröffnete diese Bemerkung eine neue Reihe von Liebkosungen. Alle zärtlichen Worte, die ihr geläufig waren und die sie dem und jenem schon geschenkt hatte, holte sie wieder hervor. Jetzt kam – wie gut kannte sie leider die Reihenfolge! – die ständig gleichlautende Bitte des Mannes, nicht vom Alter und von der Zeit zu reden. Sie wußte, wie wenig diese Bitten bedeuteten – und sie glaubte ihnen. Sie wartete. Aber der Leutnant Trotta schwieg, ein verstockter junger Mann. Sie hatte Angst, das Schweigen sei ein Urteil; und sie begann vorsichtig: »Was glaubst, um wieviel älter ich bin als du?« Er war ratlos. Darauf antwortet man nicht, es ging ihn auch gar nichts an. Er fühlte den schnellen Wechsel von glatter Kühle und ebenso glatter Glut auf ihrer Haut, die jähen klimatischen Veränderungen, die zu den zauberhaften Erscheinungen der Liebe gehören. (Innerhalb einer einzigen Stunde häufen sie alle Eigenschaften aller Jahreszeiten auf einer einzigen weiblichen Schulter. Sie heben tatsächlich die Gesetze der Zeit auf.) »Ich könnt’ ja deine Mutter sein!« flüsterte die Frau. »Rate mal, wie alt ich bin?« »Ich weiß nicht!« sagte der Unglückliche. »Einundvierzig!« sagte Frau Wally. Sie war erst vor einem Monat zweiundvierzig geworden. Aber manchen Frauen verbietet die Natur selbst, die Wahrheit zu sagen; die Natur, die sie davor behütet, älter zu werden. Frau von Taußig wäre vielleicht zu stolz gewesen, ganze drei Jahre zu unterschlagen. Aber der Wahrheit ein einziges, armseliges Jahr zu stehlen war noch kein Diebstahl an der Wahrheit. »Du lügst!« sagte er endlich, sehr grob, aus Höflichkeit. Und sie umarmte ihn in einer neuen, aufrauschenden Welle aus Dankbarkeit. Die weißen Lichter der Stationen rannen am Fenster vorbei, erleuchteten das Kupee, belichteten ihr weißes Angesicht und schienen ihre Schultern noch einmal zu entblößen. Der Leutnant lag an ihrer Brust wie ein Kind. Sie fühlte einen wohltätigen, seligen, einen mütterlichen Schmerz. Eine mütterliche Liebe rann in ihre Arme und erfüllte sie mit neuer Kraft. Sie wollte ihrem Geliebten Gutes tun wie einem eigenen Kind; als hätte ihn ihr Schoß geboren, derselbe, der ihn jetzt empfing. »Mein Kind, mein Kind!« wiederholte sie. Sie hatte keine Angst mehr vor dem Alter. Ja, zum erstenmal segnete sie die Jahre, die sie von dem Leutnant schieden. Als der Morgen, ein strahlender, frühsommerlicher Morgen, durch die dahinschießenden Kupeefenster brach, zeigte sie dem Leutnant furchtlos das noch nicht für den Tag gerüstete Angesicht. Sie rechnete allerdings ein bißchen mit der Morgenröte. Denn zufällig lag der Osten vor dem Fenster, an dem sie saß. Dem Leutnant Trotta erschien die Welt verändert. Infolgedessen stellte er 170
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Radetzkymarsch
Title
Radetzkymarsch
Author
Joseph Roth
Date
1932
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
294
Keywords
Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
Categories
Weiteres Belletristik

Table of contents

  1. Teil 1 3
    1. Kapitel 1 5
    2. Kapitel 2 20
    3. Kapitel 3 31
    4. Kapitel 4 45
    5. Kapitel 5 53
    6. Kapitel 6 69
    7. Kapitel 7 81
    8. Kapitel 8 100
  2. Teil 2 111
    1. Kapitel 1 112
    2. Kapitel 2 122
    3. Kapitel 3 136
    4. Kapitel 4 153
    5. Kapitel 5 167
    6. Kapitel 6 178
    7. Kapitel 7 191
  3. Teil 3 202
    1. Kapitel 1 203
    2. Kapitel 2 219
    3. Kapitel 3 236
    4. Kapitel 4 251
    5. Kapitel 5 272
    6. Kapitel 6 281
  4. Epilog 288
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