Seite - 170 - in Radetzkymarsch
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taufte sie wieder dieser junge Mann, sie war ein Kind (und frisch wie der
Name). Dennoch machte sie jetzt, aus Gewohnheit, die wehmütige
Feststellung, daß sie »viel älter« sei als er: eine Bemerkung, die sie jungen
Männern gegenüber immer wagte, gewissermaßen eine tollkühne Vorsicht.
Übrigens eröffnete diese Bemerkung eine neue Reihe von Liebkosungen. Alle
zärtlichen Worte, die ihr geläufig waren und die sie dem und jenem schon
geschenkt hatte, holte sie wieder hervor. Jetzt kam – wie gut kannte sie leider
die Reihenfolge! – die ständig gleichlautende Bitte des Mannes, nicht vom
Alter und von der Zeit zu reden. Sie wußte, wie wenig diese Bitten bedeuteten
– und sie glaubte ihnen. Sie wartete. Aber der Leutnant Trotta schwieg, ein
verstockter junger Mann. Sie hatte Angst, das Schweigen sei ein Urteil; und
sie begann vorsichtig: »Was glaubst, um wieviel älter ich bin als du?« Er war
ratlos. Darauf antwortet man nicht, es ging ihn auch gar nichts an. Er fühlte
den schnellen Wechsel von glatter Kühle und ebenso glatter Glut auf ihrer
Haut, die jähen klimatischen Veränderungen, die zu den zauberhaften
Erscheinungen der Liebe gehören. (Innerhalb einer einzigen Stunde häufen
sie alle Eigenschaften aller Jahreszeiten auf einer einzigen weiblichen
Schulter. Sie heben tatsächlich die Gesetze der Zeit auf.) »Ich könnt’ ja deine
Mutter sein!« flüsterte die Frau. »Rate mal, wie alt ich bin?« »Ich weiß
nicht!« sagte der Unglückliche. »Einundvierzig!« sagte Frau Wally. Sie war
erst vor einem Monat zweiundvierzig geworden. Aber manchen Frauen
verbietet die Natur selbst, die Wahrheit zu sagen; die Natur, die sie davor
behütet, älter zu werden. Frau von Taußig wäre vielleicht zu stolz gewesen,
ganze drei Jahre zu unterschlagen. Aber der Wahrheit ein einziges, armseliges
Jahr zu stehlen war noch kein Diebstahl an der Wahrheit.
»Du lügst!« sagte er endlich, sehr grob, aus Höflichkeit. Und sie umarmte
ihn in einer neuen, aufrauschenden Welle aus Dankbarkeit. Die weißen
Lichter der Stationen rannen am Fenster vorbei, erleuchteten das Kupee,
belichteten ihr weißes Angesicht und schienen ihre Schultern noch einmal zu
entblößen. Der Leutnant lag an ihrer Brust wie ein Kind. Sie fühlte einen
wohltätigen, seligen, einen mütterlichen Schmerz. Eine mütterliche Liebe
rann in ihre Arme und erfüllte sie mit neuer Kraft. Sie wollte ihrem Geliebten
Gutes tun wie einem eigenen Kind; als hätte ihn ihr Schoß geboren, derselbe,
der ihn jetzt empfing. »Mein Kind, mein Kind!« wiederholte sie. Sie hatte
keine Angst mehr vor dem Alter. Ja, zum erstenmal segnete sie die Jahre, die
sie von dem Leutnant schieden. Als der Morgen, ein strahlender,
frühsommerlicher Morgen, durch die dahinschießenden Kupeefenster brach,
zeigte sie dem Leutnant furchtlos das noch nicht für den Tag gerüstete
Angesicht. Sie rechnete allerdings ein bißchen mit der Morgenröte. Denn
zufällig lag der Osten vor dem Fenster, an dem sie saß.
Dem Leutnant Trotta erschien die Welt verändert. Infolgedessen stellte er
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik