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6Kapitel
Der Tag, an dem der Leutnant in seine Garnison zurückfahren mußte, war ein
betrüblicher und zufällig auch ein trüber Tag. Er ging noch einmal über die
Straßen, durch die zwei Tage früher die Prozession gezogen war. Damals,
dachte der Leutnant (damals, dachte er), war er eine kurze Stunde stolz auf
sich und seinen Beruf gewesen. Heute aber schritt der Gedanke an seine
Rückkehr neben ihm einher wie ein Wächter neben einem Gefangenen. Zum
erstenmal lehnte sich der Leutnant Trotta gegen das militärische Gesetz auf,
das sein Leben beherrschte. Er gehorchte seit seiner frühesten Knabenzeit.
Und er wollte nicht mehr gehorchen. Er wußte zwar keineswegs, was die
Freiheit bedeutete; aber er fühlte, daß sie sich von einem Urlaub
unterscheiden mußte wie etwa ein Krieg von einem Manöver. Dieser
Vergleich fiel ihm ein, weil er ein Soldat war (und weil der Krieg die Freiheit
des Soldaten ist). Es kam ihm in den Sinn, daß die Munition, die man für die
Freiheit brauchte, das Geld sei. Die Summe aber, die er bei sich trug, glich
gewissermaßen den blinden Patronen, die man in den Manövern abfeuerte.
Besaß er überhaupt etwas? Konnte er sich Freiheit leisten? Hatte sein
Großvater, der Held von Solferino, ein Vermögen hinterlassen? Würde er es
einmal von seinem Vater erben? Niemals waren ihm früher derlei
Überlegungen bekannt gewesen! Jetzt flogen sie ihm zu wie eine Schar
fremder Vögel, nisteten sich in seinem Gehirn ein und flatterten unruhig darin
herum. Jetzt vernahm er alle verwirrenden Rufe der großen Welt. Seit gestern
wußte er, daß Chojnicki in diesem Jahr früher als gewöhnlich seine Heimat
verlassen und noch in dieser Woche mit seiner Freundin nach dem Süden
fahren wolle. Und er lernte die Eifersucht auf einen Freund kennen; und sie
beschämte ihn doppelt. Er fuhr an die nordöstliche Grenze. Aber die Frau und
der Freund fuhren nach dem Süden. Und der »Süden«, der bis zu dieser
Stunde eine geographische Bezeichnung gewesen war, erglänzte in allen
betörenden Farben eines unbekannten Paradieses. Der Süden lag in einem
fremden Land! Und siehe da: Es gab also fremde Länder, die Kaiser Joseph
dem Ersten nicht untertan waren, die ihre eigenen Armeen hatten, mit
Vieltausenden Leutnants in kleinen und großen Garnisonen. In diesen andern
Ländern bedeutete der Name des Helden von Solferino gar nichts. Auch dort
gab es Monarchen. Und diese Monarchen hatten ihre eigenen Lebensretter. Es
war höchst verwirrend, solchen Gedanken nachzugehen; für einen Leutnant
der Monarchie genau so verwirrend wie etwa für unsereinen die Überlegung,
daß die Erde nur einer von Millionen und Abermillionen Weltkörpern sei, daß
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik