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8Kapitel
Damals, vor dem großen Kriege, da sich die Begebenheiten zutrugen, von
denen auf diesen Blättern berichtet wird, war es noch nicht gleichgültig, ob
ein Mensch lebte oder starb. Wenn einer aus der Schar der Irdischen
ausgelöscht wurde, trat nicht sofort ein anderer an seine Stelle, um den Toten
vergessen zu machen, sondern eine Lücke blieb, wo er fehlte, und die nahen
wie die fernen Zeugen des Untergangs verstummten, sooft sie diese Lücke
sahen. Wenn das Feuer ein Haus aus der Häuserzeile der Straße hinweggerafft
hatte, blieb die Brandstätte noch lange leer. Denn die Maurer arbeiteten
langsam und bedächtig, und die nächsten Nachbarn wie die zufällig
Vorbeikommenden erinnerten sich, wenn sie den leeren Platz erblickten, an
die Gestalt und an die Mauern des verschwundenen Hauses. So war es
damals! Alles, was wuchs, brauchte viel Zeit zum Wachsen; und alles, was
unterging, brauchte lange Zeit, um vergessen zu werden. Aber alles, was
einmal vorhanden gewesen war, hatte seine Spuren hinterlassen, und man
lebte dazumal von den Erinnerungen, wie man heutzutage lebt von der
Fähigkeit, schnell und nachdrücklich zu vergessen. Lange Zeit bewegte und
erschütterte der Tod des Regimentsarztes und des Grafen Tattenbach die
Gemüter der Offiziere, der Mannschaften des Ulanenregiments und auch der
Zivilbevölkerung. Man begrub die Toten nach den vorschriftsmäßigen
militärischen und religiösen Riten. Obwohl über die Art ihres Todes keiner
der Kameraden außerhalb der eigenen Reihen ein Wort hatte fallenlassen,
schien es doch in der Bevölkerung der kleinen Garnison ruchbar geworden zu
sein, daß beide ihrer strengen Standesehre zum Opfer gefallen waren. Und es
war, als trüge von nun ab auch jeder der überlebenden Offiziere das Merkmal
eines nahen, gewaltsamen Todes in seinem Antlitz, und für die Kaufleute und
Handwerker des Städtchens waren die fremden Herren noch fremder
geworden. Wie unbegreifliche Anbeter einer fernen, grausamen Gottheit,
deren buntverkleidete und prachtgeschmückte Opfertiere sie gleichzeitig
waren, gingen die Offiziere umher. Man sah ihnen nach und schüttelte die
Köpfe. Man bedauerte sie sogar. Sie haben viele Vorteile, sagten sich die
Leute. Sie können mit Säbeln herumgehn und Frauen gefallen, und der Kaiser
sorgt für sie persönlich, als wären sie seine eigenen Söhne. Aber, eins, zwei,
drei, hast du nicht gesehn, fügt einer dem andern eine Kränkung zu, und das
muß mit rotem Blut abgewaschen werden! …
Diejenigen, von denen man also sprach, waren in der Tat nicht zu beneiden.
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik