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7Kapitel
Der Winter kam. Am Morgen, wenn das Regiment ausrückte, war die Welt
noch finster. Unter den Hufen der Rösser zersplitterte die zarte Eishülle auf
den Straßen. Grauer Hauch strömte aus den Nüstern der Tiere und aus den
Mündern der Reiter. Über den Scheiden der schweren Säbel und über den
Läufen der leichten Karabiner perlte der matte Hauch des Frostes. Die kleine
Stadt wurde noch kleiner. Die gedämpften, gefrorenen Rufe der Trompeten
lockten keinen der gewohnten Zuschauer mehr an den Straßenrand. Nur die
Kutscher am alten Standplatz hoben jeden Morgen die bärtigen Köpfe. Sie
fuhren Schlitten, wenn reichlich Schnee gefallen war. Die Glöckchen am
Gehänge ihrer Gäule klingelten leise, unaufhörlich bewegt von der Unruhe
der frierenden Tiere. Alle Tage glichen einander wie Schneeflocken. Die
Offiziere des Ulanenregiments warteten auf irgendein außerordentliches
Ereignis, das die Eintönigkeit ihrer Tage unterbrechen sollte. Niemand wußte
zwar, welcher Art das Ereignis sein würde. Dieser Winter aber schien
irgendeine furchtbare Überraschung in seinem klirrenden Schoße zu bergen.
Und eines Tages brach sie aus ihm hervor wie ein roter Blitz aus weißem
Schnee …
An diesem Tage saß der Rittmeister Taittinger nicht einsam wie sonst hinter
der großen Spiegelscheibe an der Tür der Konditorei. Seit dem frühen
Nachmittag hielt er sich, umgeben von den jüngeren Kameraden, im
Hinterstübchen auf. Blasser und hagerer als gewöhnlich erschien er den
Offizieren. Sie waren übrigens alle bleich. Sie tranken viele Liköre, und ihre
Gesichter röteten sich nicht. Sie aßen nicht. Nur vor dem Rittmeister erhob
sich heute, wie immer, ein Berg von Süßigkeiten. Ja, er naschte vielleicht
sogar heute mehr als an andern Tagen. Den der Kummer nagte an seinem
Innern und höhlte es aus, und er mußte sich am Leben erhalten. Und während
er so ein Backwerk nach dem andern mit seinen hageren Fingern in den weit
geöffneten Mund schob, wiederholte er seine Geschichte, zum fünftenmal
schon, vor seinen ewig begierigen Zuhörern:
»Also, Hauptsache, meine Herren, ist strengste Diskretion gegenüber der
Zivilbevölkerung! Wie ich noch bei den Neuner-Dragonern war, da hat’s dort
so einen Schwätzer gegeben, Reserve natürlich, schweres Vermögen,
nebenbei bemerkt, und grad, wie er einrückt, muß die Geschichte passieren!
Natürlich, wie wir dann den armen Baron Seidl begraben haben, hat die ganze
Stadt schon gewußt, warum der so plötzlich gestorben ist. Ich hoffe, meine
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik