Seite - 20 - in Radetzkymarsch
Bild der Seite - 20 -
Text der Seite - 20 -
2Kapitel
Es gab im ganzen Machtbereich der Division keine schönere Militärkapelle
als die des Infanterieregiments Nr. X in der kleinen Bezirksstadt W. in
Mähren. Der Kapellmeister gehörte noch zu jenen österreichischen
Militärmusikern, die dank einem genauen Gedächtnis und einem immer
wachen Bedürfnis nach neuen Variationen alter Melodien jeden Monat einen
Marsch zu komponieren vermochten. Alle Märsche glichen einander wie
Soldaten. Die meisten begannen mit einem Trommelwirbel, enthielten den
marsch-rhythmisch beschleunigten Zapfenstreich, ein schmetterndes Lächeln
der holden Tschinellen und endeten mit einem grollenden Donner der großen
Pauke, dem fröhlichen und kurzen Gewitter der Militärmusik. Was den
Kapellmeister Nechwal vor seinen Kollegen auszeichnete, war nicht so sehr
die außerordentlich fruchtbare Zähigkeit im Komponieren wie die schneidige
und heitere Strenge, mit der er Musik exerzierte. Die lässige Gewohnheit
anderer Musikkapellmeister, den ersten Marsch vom Musikfeldwebel
dirigieren zu lassen und erst beim zweiten Punkt des Programms den
Taktstock zu heben, hielt Nechwal für ein deutliches Anzeichen des
Untergangs der kaiserlichen und königlichen Monarchie. Sobald sich die
Kapelle im vorgeschriebenen Rund aufgestellt und die zierlichen Füßchen der
winzigen Notenpulte in die schwarzen Erdritzen zwischen den großen
Pflastersteinen des Platzes eingegraben hatte, stand der Kapellmeister auch
schon in der Mitte seiner Musikanten, den schwarzen Taktstock aus Ebenholz
mit silbernem Knauf diskret gehoben. Alle Platzkonzerte – sie fanden unter
dem Balkon des Herrn Bezirkshauptmanns statt – begannen mit dem
Radetzkymarsch. Obwohl er den Mitgliedern der Kapelle so geläufig war, daß
sie ihn mitten in der Nacht und im Schlaf hätten spielen können, ohne
dirigiert zu werden, hielt es der Kapellmeister dennoch für notwendig, jede
Note vom Blatt zu lesen. Und als probte er den Radetzkymarsch zum
erstenmal mit seinen Musikanten, hob er jeden Sonntag in militärischer und
musikalischer Gewissenhaftigkeit den Kopf, den Stab und den Blick und
richtete alle drei gleichzeitig gegen die seiner Befehle jeweils bedürftig
scheinenden Segmente des Kreises, in dessen Mitte er stand. Die herben
Trommeln wirbelten, die süßen Flöten pfiffen, und die holden Tschinellen
schmetterten. Auf den Gesichtern aller Zuhörer ging ein gefälliges und
versonnenes Lächeln auf, und in ihren Beinen prickelte das Blut. Während sie
noch standen, glaubten sie schon zu marschieren. Die jüngeren Mädchen
hielten den Atem an und öffneten die Lippen. Die reiferen Männer ließen die
20
zurück zum
Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik