Seite - 69 - in Radetzkymarsch
Bild der Seite - 69 -
Text der Seite - 69 -
6Kapitel
Seit drei Jahren war der Regimentsarzt Max Demant beim Regiment. Er
wohnte außerhalb der Stadt, an ihrem Südrande, dort, wo die Landstraße zu
den beiden Friedhöfen führte, zum »alten« und zum »neuen«. Beide
Friedhofswächter kannten den Doktor gut. Er kam ein paarmal in der Woche
die Toten besuchen, die längst verschollenen wie die noch nicht vergessenen
Toten. Und er verweilte manchmal lange zwischen ihren Gräbern, und man
hörte hier und da seinen Säbel mit zartem Klirren gegen einen Grabstein
anschlagen. Er war ohne Zweifel ein sonderbarer Mann; ein guter Arzt, sagte
man, und also unter Militärärzten in jeder Beziehung eine Seltenheit. Er mied
jeglichen Verkehr. Nur dienstliche Pflicht gebot ihm, hie und da (aber immer
noch häufiger, als er gewünscht hätte) unter Kameraden zu
erscheinen. Seinem Alter wie seiner Dienstzeit nach hätte er Stabsarzt sein
müssen. Niemand wußte, warum er es noch nicht war. Vielleicht wußte er
selbst es nicht. »Es gibt Karrieren mit Widerhaken.« Es war ein Wort von
Rittmeister Taittinger, der das Regiment auch mit trefflichen Sprüchen
versorgte.
»Karriere mit Widerhaken«, dachte der Doktor selber oft. »Leben mit
Widerhaken«, sagte er zu Leutnant Trotta. »Ich habe ein Leben mit
Widerhaken. Wenn mir das Schicksal günstig gewesen wäre, hätte ich
Assistent des großen Wiener Chirurgen und wahrscheinlich Professor werden
können.« – In die düstere Enge seiner Kindheit hatte der große Name des
Wiener Chirurgen frühen Glanz geschickt. Max Demant war schon als Knabe
entschlossen gewesen, später Arzt zu werden. Er stammte aus einem der
östlichen Grenzdörfer der Monarchie. Sein Großvater war ein frommer
jüdischer Schankwirt gewesen, und sein Vater, nach zwölfjähriger Dienstzeit
bei der Landwehr, mittlerer Beamter im Postamt des nächstgelegenen
Grenzstädtchens geworden. Er erinnerte sich noch deutlich seines Großvaters.
Vor dem großen Torbogen der Grenzschenke saß er zu jeder Stunde des
Tages. Sein mächtiger Bart aus gekräuseltem Silber verhüllte seine Brust und
reichte bis zu den Knien. Um ihn schwebte der Geruch von Dünger und Milch
und Pferden und Heu. Vor seiner Schenke saß er, ein alter König unter den
Schankwirten. Wenn die Bauern, vom allwöchentlichen Schweinemarkt
heimkehrend, vor der Schenke anhielten, erhob sich der Alte, gewaltig wie
ein Berg in menschlicher Gestalt. Da er schon schwerhörig war, mußten die
kleinen Bauern ihre Wünsche zu ihm emporschreien, durch die gehöhlten
69
zurück zum
Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik