Page - 209 - in Radetzkymarsch
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Leben kennen, die Küchen und die Schlafzimmer, die Neigungen, die
Leidenschaften und die Dummheiten. Und da er den Frauen nicht alles
glaubte, sondern nur drei Viertel von dem, was sie ihm berichteten, erlangte er
mit der Zeit eine ausgezeichnete Kenntnis der Welt, die wertvoller war als
seine medizinische. Auch wenn er mit Männern sprach, lag auf seinen Lippen
das ungläubige und dennoch bereitwillige Lächeln eines Menschen, der alles
zu hören erwartet. Eine Art abwehrender Güte leuchtete auf seinem kleinen,
verkniffenen Antlitz. Und in der Tat hatte er die Menschen ebenso gern, wie
er sie geringschätzte.
Ahnte die einfache Seele Herrn von Trottas etwas von der herzlichen
Schlauheit Doktor Skowronneks? Es war jedenfalls der erste Mensch nach
dem Jugendfreund Moser, für den der Bezirkshauptmann eine zutrauliche
Hochachtung zu fühlen begann. »Sie leben schon lange hier in unserer Stadt,
Herr Doktor?« fragte er. »Seit meiner Geburt!« sagte Skowronnek. »Schade,
schade«, sagte der Bezirkshauptmann, »daß wir uns so spät kennenlernen!«
»Ich kenne Sie schon lange, Herr Bezirkshauptmann!« sagte Doktor
Skowronnek. »Ich hab’ Sie gelegentlich beobachtet!« erwiderte Herr von
Trotta. »Ihr Herr Sohn war einmal hier!« sagte Skowronnek. »Es sind ein paar
Jahre her!« »Ja, ja! Ich erinnere mich!« meinte der Bezirkshauptmann. Er
dachte an den Nachmittag, an dem Carl Joseph mit den Briefen der toten Frau
Slama gekommen war. Es war Sommer. Es hatte geregnet. Einen schlechten
Cognac hatte der Junge am Büfett getrunken. »Er hat sich transferieren
lassen«, sagte Herr von Trotta. »Er dient jetzt bei den Jägern, an der Grenze,
in B.« »Und er macht Ihnen Freude?« fragte Skowronnek. Aber er wollte
»Sorgen« sagen. »Eigentlich – ja! Gewiß! Ja!« erwiderte der
Bezirkshauptmann. Er stand sehr schnell auf und verließ den Doktor
Skowronnek.
Er trug sich schon lange mit dem Gedanken, Doktor Skowronnek alle
Sorgen zu erzählen. Er wurde alt, er brauchte einen Zuhörer. Jeden
Nachmittag faßte der Bezirkshauptmann aufs neue den Entschluß, mit Doktor
Skowronnek zu sprechen. Aber er brachte nicht jenes Wort hervor, das
geeignet gewesen wäre, ein vertrautes Gespräch einzuleiten. Doktor
Skowronnek erwartete es jeden Tag. Er ahnte, daß die Zeit für den
Bezirkshauptmann gekommen war, Geständnisse abzulegen.
Seit mehreren Wochen trug der Bezirkshauptmann in der Brusttasche einen
Brief seines Sohnes. Es galt, ihm zu antworten, aber Herr von Trotta konnte
es nicht. Indessen wurde der Brief immer schwerer, geradezu eine Last in der
Tasche. Bald war es dem Bezirkshauptmann, als trüge er den Brief auf seinem
alten Herzen. Carl Joseph schrieb nämlich, daß er gedenke, die Armee zu
verlassen. Ja, gleich der erste Satz des Briefes lautete: »Ich trage mich mit
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Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik