Page - 216 - in Radetzkymarsch
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Herr von Trotta zum erstenmal, seitdem er Hosen trug, abscheuliche
Querfalten. Er betrachtete sich eine Weile im Spiegel. Und er sah, daß sein
Backenbart zerzaust war und daß sich ein paar kümmerliche, graue Härchen
auf seiner Glatze ringelten und daß seine stichligen Augenbrauen kreuz und
quer durcheinanderstanden, als wäre ein kleiner Sturm über sie hingegangen.
Der Bezirkshauptmann schaute auf die Uhr. Und da der Friseur bald kommen
mußte, beeilte er sich, die Kleider abzulegen und geschwind ins Bett zu
schlüpfen, um dem Barbier einen normalen Morgen vorzutäuschen. Aber den
Brief behielt er in der Hand. Und er hielt ihn, während er eingeseift und
rasiert wurde, und später, als er sich wusch, lag der Brief am Rande des
Tischchens, auf dem das Waschbecken stand. Erst als sich Herr von Trotta
zum Frühstück setzte, übergab er den Brief dem Amtsdiener und befahl, ihn
zusammen mit der nächsten Dienstpost abgehen zu lassen.
Er ging, wie jeden Tag, an seine Arbeit. Und niemand wäre imstande
gewesen zu erkennen, daß Herr von Trotta seinen Glauben verloren hatte.
Denn die Sorgfalt, mit der er heute seine Geschäfte erledigte, war keineswegs
eine geringere als an anderen Tagen. Nur war diese Sorgfalt eine ganz, ganz
andere. Sie war lediglich die Sorgfalt der Hände, der Augen, des Zwickers
sogar. Und Herr von Trotta glich einem Virtuosen, in dem das Feuer
erloschen, in dessen Seele es taub und leer geworden ist und dessen Finger
nur noch in kalter, seit Jahren erworbener Dienstfertigkeit dank ihrem eigenen
toten Gedächtnis richtige Klänge erzeugen. Aber niemand bemerkte es, wie
gesagt. Und am Nachmittag kam, wie gewöhnlich, der Wachtmeister Slama.
Und Herr von Trotta fragte ihn: »Sagen Sie, lieber Slama, haben Sie
eigentlich wieder geheiratet?« Er wußte selbst nicht, warum er diese Frage
heute stellte und warum ihn plötzlich das Privatleben des Gendarmen etwas
anging. »Nein, Herr Baron!« sagte Slama. »Ich werde auch nicht mehr
heiraten!« »Da haben Sie recht!« sagte Herr von Trotta. Aber er wußte auch
nicht, weshalb der Wachtmeister mit seinem Entschluß, nicht wieder zu
heiraten, recht haben sollte.
Das war die Stunde, in der er täglich im Kaffeehaus erschien, und also
begab er sich auch heute dorthin. Das Schachbrett stand schon auf dem Tisch,
Doktor Skowronnek kam zu gleicher Zeit, sie setzten sich. »Schwarz oder
weiß, Herr Bezirkshauptmann?« fragte der Doktor wie alle Tage. »Nach
Belieben!« sagte der Bezirkshauptmann. Und sie begannen zu spielen. Herr
von Trotta spielte heute sorgfältig, andächtig beinahe, und gewann. »Sie
werden ja allmählich ein wahrer Schachmeister!« sagte Skowronnek. Der
Bezirkshauptmann fühlte sich wahrhaftig geschmeichelt. »Vielleicht hätte ich
einer werden können!« erwiderte er. Und er dachte, daß es besser gewesen
wäre, daß alles besser gewesen wäre.
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Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik