Page - 224 - in Radetzkymarsch
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Trotta trank. Das kahle Zimmer wurde heimlicher. Die nackte elektrische
Birne am geflochtenen Draht, umschwirrt von Nachtfaltern, geschaukelt vom
nächtlichen Wind, weckte in der bräunlichen Politur des Tisches trauliche,
flüchtige Reflexe. Allmählich verwandelte sich auch Trottas Enttäuschung in
wohliges Weh. Er schloß eine Art Bündnis mit seinem Kummer. Alles in der
Welt war heute im höchsten Maße traurig, und der Leutnant war der
Mittelpunkt dieser erbärmlichen Welt. Für ihn lärmten heute so jämmerlich
die Frösche, und auch die schmerzerfüllten Grillen wehklagten für ihn.
Seinetwegen füllte sich die Frühlingsnacht mit einem so gelinden, süßen Weh,
seinetwegen standen die Sterne so unerreichbar hoch am Himmel, und ihm
allein blinkte ihr Licht so vergeblich sehnsüchtig zu. Der unendliche Schmerz
der Welt paßte vollkommen zu dem Elend Trottas. Er litt in vollendeter
Eintracht mit dem leidenden All. Hinter der tiefblauen Schale des Himmels
sah Gott selbst auf ihn mitleidig hernieder. Trotta öffnete noch einmal den
Kasten. Da hing, gestorben für immer, der freie Trotta. Daneben blinkte der
Säbel Max Demants, des toten Freundes. Im Koffer lag das Andenken des
alten Jacques, die steinharte Wurzel, neben den Briefen der toten Frau Slama.
Und auf dem Fensterbrett lagen nicht weniger als drei nicht geöffnete Briefe
seines Vaters, der vielleicht auch schon gestorben war! Ach! Der Leutnant
Trotta war nicht nur traurig und unglücklich, sondern auch schlecht, ein
grundschlechter Charakter! Carl Joseph kehrte an den Tisch zurück, schenkte
sich noch ein Glas ein und leerte es auf einen Zug. Im Korridor, vor der Tür,
begann eben Onufrij, ein neues Lied auf der Mundharmonika zu blasen, das
wohlbekannte Lied. »Oh, unser Kaiser … « Die ersten ukrainischen Worte
kannte Trotta nicht mehr: »Oj nasch cisar, cisarewa.« Es war ihm nicht
gelungen, die Landessprache zu erlernen. Er war nicht nur ein
grundschlechter Charakter, sondern auch ein müder, törichter Kopf. Und kurz
und gut: Sein ganzes Leben war verfehlt! Seine Brust preßte sich zusammen,
die Tränen quollen schon in seiner Kehle, bald würden sie in die Augen
steigen. Und er trank noch ein Glas, um ihnen den Weg zu erleichtern.
Schließlich brachen sie aus seinen Augen. Er legte die Arme auf den Tisch,
bettete den Kopf in die Arme und begann, jämmerlich zu schluchzen. So
weinte er wohl eine Viertelstunde. Er hörte nicht, daß Onufrij sein Spiel
unterbrochen hatte und daß er an die Tür klopfte. Erst als sie ins Schloß fiel,
hob er den Kopf. Und er erblickte Kapturak.
Es gelang ihm, die Tränen zurückzuhalten und mit einer scharfen Stimme
zu fragen: »Wie kommen Sie hierher?«
Kapturak, die Mütze in der Hand, stand hart an der Tür; er ragte nur wenig
über die Klinke. Sein gelblichgraues Angesicht lächelte. Er war grau
angezogen. Er trug Schuhe aus grauer Leinwand. Ihre Ränder zeigten den
grauen, frischen, glänzenden Frühlingsschlamm der Straßen dieses Landes.
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Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik