Page - 255 - in Radetzkymarsch
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Alle Kanzleischreiber drehten grüne und rote Girlanden aus Papier. Die
Offiziersburschen saßen auf den dünnen Fichtenstämmen des »Wäldchens«
und spannten Drähte von einem Bäumchen zum andern. Dreimal in der
Woche rückten die Dragoner nicht aus. Sie hatten »Schule« in der Kaserne.
Man unterwies sie in der Kunst, mit vornehmen Gästen umzugehen. Eine
halbe Schwadron wurde vorübergehend dem Koch zugeteilt. Hier lernten die
Bauern, wie man Kessel putzt, Tabletts serviert, Weingläser hält und den
Bratspieß dreht. Jeden Morgen hielt der Oberst Festetics strenge Visite in
Küche, Keller und in der Messe ab. Für alle Mannschaftspersonen, denen die
geringste Aussicht drohte, mit den Gästen in irgendeiner Weise
zusammenzustoßen, hatte man weiße Zwirnhandschuhe angeschafft. Jeden
Morgen mußten die Dragoner, denen die Laune der Wachtmeister diese harte
Auszeichnung beschert hatte, die ausgestreckten, weißbekleideten Hände, alle
Finger gespreizt, dem Obersten vor die Augen halten. Er prüfte die
Sauberkeit, den Sitz, die Haltbarkeit der Nähte. Er war aufgeräumt, von einer
besonderen, verborgenen, inneren Sonne durchleuchtet. Er bewunderte seine
eigene Tatkraft, rühmte sie und verlangte Bewunderung. Er entwickelte eine
ungewöhnliche Phantasie. Jeden Tag schenkte sie ihm mindestens zehn
Einfälle, während er früher mit einem einzigen wöchentlich ganz gut
ausgekommen war. Und die Einfälle betrafen nicht nur das Fest, sondern auch
die großen Fragen des Lebens, das Exerzierreglement zum Beispiel, die
Adjustierung und sogar die Taktik. In diesen Tagen wurde es dem Obersten
Festetics klar, daß er ohne weiteres General sein könnte.
Jetzt waren die Drähte von Stamm zu Stamm gespannt, nun handelte es
sich darum, die Girlanden an den Drähten anzubringen. Man hängte sie also
probeweise auf. Der Oberst besichtigte sie. Unleugbar war die Notwendigkeit
vorhanden, auch Lampions anzubringen. Aber da es, trotz den Nebeln und der
Schwüle, so lange nicht mehr geregnet hatte, mußte man jeden Tag ein
überraschendes Gewitter erwarten. Der Oberst bestimmte also eine ständige
Wache im Wäldchen, deren Aufgabe es war, bei den geringsten Anzeichen
eines nahenden Gewitters die Girlanden wie die Lampions abzunehmen.
»Auch die Drähte?« fragte er vorsichtig den Rittmeister. Denn er wußte wohl,
daß große Männer den Rat ihrer kleineren Helfer gerne hören. »Den Drähten
passiert nix!« sagte der Rittmeister. Man ließ sie also an den Bäumen. Es
kamen keine Gewitter. Es blieb schwül und schwer. Dagegen erfuhr man aus
manchen Absagen der Eingeladenen, daß an dem Sonntag, an dem das Fest
der Dragoner stattfinden sollte, auch das Fest eines bekannten Adelsklubs in
Wien gefeiert wurde. Manche unter den Eingeladenen schwankten zwischen
ihrer Begierde, alle Neuigkeiten aus der Gesellschaft zu vernehmen (was nur
auf dem Ball des Klubs möglich war), und dem abenteuerlichen Vergnügen,
die fast sagenhafte Grenze zu besuchen. Die Exotik erschien ihnen genauso
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Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik