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aufgeworfenen Schaufellippen. Der kleine Schnurrbart verhüllte die wirkliche
Lippe zwar, aber die gemalte nicht. Es war, als hätte der Maler den Bart
wegrasiert – und er hatte ihn doch mitgemalt.
Es ist mißlungen, dachte Theodor. Das Bild hing im Zimmer und verriet
ihn. Alle, die das Porträt sahen, wurden schweigsam und betrachteten
Theodor verstohlen. Er fühlte sich fast entlarvt und wäre vor diesem Bild
geflohen, wenn nicht der junge Kommunist Thimme eingetroffen wäre.
Thimme hatte Ekrasit im Keller eines sicheren Gastwirtes eingelagert. Er
wollte es im Dienst der Revolution explodieren lassen. Er sprach von der
Notwendigkeit einer neuen revolutionären Tat und fand Zustimmung bei
allen, bei Theodor Begeisterung.
Theodor hörte mit tausend Ohren. Tausend Arme hätte er bereithalten
mögen. Er entsann sich jener Spinne in den Sommerferien seiner Knabenzeit,
die er jeden Tag mit gefangenen Fliegen gefüttert hatte; des atemlosen
Wartens auf das hastige Heranklettern des Tieres, sein sekundenlanges
Lauern, den letzten todbringenden Anlauf, der Sturz und Sprung und Fall in
einer Bewegung war.
So saß er jetzt selbst, sturzbereit, zum Sprunge entschlossen. Er haßte diese
Menschen, wußte nicht, weshalb, und führte für sich selbst Gründe seines
Hasses an. Sie waren Sozialisten, Vaterlandslose, Verräter. In seiner Gewalt
waren sie. Oh, er hatte Gewalt über fünf, sechs, zehn Menschen. Er hatte
wieder Macht über Menschen, Theodor Lohse, der Hauslehrer, Jurist, vom
Detektiv Klitsche Erniedrigte, vom Prinzen Mißbrauchte, von seinen
Kameraden Verratene. Alle sahen das Feuer in seinem Auge, seine geröteten
Wangen. Er betrachtete Thimme, den jungen verhungerten Thimme, einen
Glasbläser mit sichtbarer Tuberkulose, den dunklen Tod trug er in den
tiefschattenden Augenhöhlen. Er betrachtete Thimme als sein Wild, seinen
Menschen, sein Eigentum.
Er kostete seine Verborgenheit wie eine labende Nahrung. Er rückte ins
Dunkel. Er spreizte die Finger in den Hosentaschen. Er beugte den
Oberkörper vor. Er nahm, ohne es zu wissen, die lauernde Haltung seiner
Spinne an.
Sie stritten über das Objekt ihres Angriffs. Einige wollten den Reichstag,
andere die Polizei. Andere rieten zur Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.
Goldscheider stand mit ausgebreiteten Armen und bat und beschwor, von dem
Ekrasit abzulassen. Er hatte die Brille abgelegt, und sein bärtiges Gesicht sah
hilflos und verloren und Rettung heischend aus.
Wer die Tat ausführen sollte? Sie einigten sich auf das Los. Es traf
Goldscheider.
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Das Spinnennetz
- Title
- Das Spinnennetz
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1923
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 93
- Keywords
- Roman, Geschichte
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 10
- Kapitel 3 14
- Kapitel 4 17
- Kapitel 5 21
- Kapitel 6 24
- Kapitel 7 30
- Kapitel 8 32
- Kapitel 9 36
- Kapitel 10 39
- Kapitel 11 42
- Kapitel 12 44
- Kapitel 13 47
- Kapitel 14 50
- Kapitel 15 52
- Kapitel 16 54
- Kapitel 17 57
- Kapitel 18 59
- Kapitel 19 61
- Kapitel 20 64
- Kapitel 21 67
- Kapitel 22 69
- Kapitel 23 73
- Kapitel 24 76
- Kapitel 25 79
- Kapitel 26 81
- Kapitel 27 83
- Kapitel 28 86
- Kapitel 29 89
- Kapitel 30 92