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Das Spinnennetz
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Page - 57 - in Das Spinnennetz

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17 Kapitel Seit jenem Abend kam Benjamin Lenz täglich ins Berliner Büro in der Potsdamer Kaserne. Wieviel Gewehre hatte Theodor an seinen Bismarck- Bund verteilt? Ob Marinellis Flucht schon vorbereitet war? Wie oft gingen die Kuriere von Leipzig nach München? Alles wußte Benjamin; wußte mehr, als man ihm sagte. Dafür brachte er Theodor zu den anderen. Bekannte Gesichter aus München glaubte Theodor wiederzufinden: den Invaliden Klatko aus den oberschlesischen Abstimmungskämpfen; denDeserteur Conti aus Triest; den Vizefeldwebel Fritsche aus Breslau; den gewesenen Polizeiwachtmeister Glawacki; den Buchbinder Falbe aus Schleswig-Holstein. Eine Woche lang ging er in die Versammlungen. Sah die verräucherten, schlecht beleuchteten Lokale, die wie Bierkeller rochen; hörte Stimmen der Redner, hohe Kopfstimmen, tiefe, wie aus Gräbern kommende, heisere, rasselnde, das tausendfache Rufen der Zuhörer, stand hart neben ihnen, roch ihren Schweiß und ihre Armut, sah in flackernde Pupillen, sah dürre Gesichter auf knochigen Hälsen, eckige Fäuste an dünnen, wie ausgesogenen Handgelenken; sah Schnurrbärte, willkürlich gekämmte über zahnlosen Mündern, zwischen geöffneten Lippen schwarze Zahnlücken, Bandagen, von Jodoform durchtränkte, über entblößten Armen. Sah Frauen mit spärlichem, straffgekämmtem, wasserblondem Haar, die Armseligkeit der Trägerin, ihren gedörrten Hals, sah durchsichtige, dünne, gelbliche Haut, in schlaffen Fetzen hängende. Sah Mütter mit großköpfigen Kindern an welkender Brust, sah Jünglinge mit verwegenen Locken über mutigen Stirnen, dennoch schon von Arbeit und Krankheit gezeichnete, mit unnatürlich großen Augenhöhlen; sah junge Mädchen in derben Schuhen, mit bleichen Gesichtern, männersuchenden Augen, gefärbten Lippen, hörte ihre hemmungslos kreischenden Stimmen. Er sah sie trinken, roch den Schnaps, verstand den Dialekt nicht, lächelte ein leeres Lächeln, wenn jemand an ihn stieß. Fremd waren ihm die Menschen, fremde Gesichter trugen sie, nicht von seiner Welt waren sie, nicht von dieser Welt. Er bedauerte sie nicht, er sah, daß sie leiden mußten, aber welcher Art ihr Leid war, konnte er sich nicht vorstellen. Den einzelnen hätte er vielleicht verstanden, in der Menge aber gab es keine Kontur, keinen bleibenden Punkt. Alles schwankte und schwamm. Wie sie liebten, wußte er nicht, und nicht, wie sie weinten. Er sah, wie sie aßen, Brot, das in den Rocktaschen lag, rissen sie mit Daumen und Zeigefinger heraus, 57
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Das Spinnennetz
Title
Das Spinnennetz
Author
Joseph Roth
Date
1923
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
93
Keywords
Roman, Geschichte
Categories
Weiteres Belletristik

Table of contents

  1. Kapitel 1 5
  2. Kapitel 2 10
  3. Kapitel 3 14
  4. Kapitel 4 17
  5. Kapitel 5 21
  6. Kapitel 6 24
  7. Kapitel 7 30
  8. Kapitel 8 32
  9. Kapitel 9 36
  10. Kapitel 10 39
  11. Kapitel 11 42
  12. Kapitel 12 44
  13. Kapitel 13 47
  14. Kapitel 14 50
  15. Kapitel 15 52
  16. Kapitel 16 54
  17. Kapitel 17 57
  18. Kapitel 18 59
  19. Kapitel 19 61
  20. Kapitel 20 64
  21. Kapitel 21 67
  22. Kapitel 22 69
  23. Kapitel 23 73
  24. Kapitel 24 76
  25. Kapitel 25 79
  26. Kapitel 26 81
  27. Kapitel 27 83
  28. Kapitel 28 86
  29. Kapitel 29 89
  30. Kapitel 30 92
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