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Kapitel
Seit jenem Abend kam Benjamin Lenz täglich ins Berliner Büro in der
Potsdamer Kaserne. Wieviel Gewehre hatte Theodor an seinen Bismarck-
Bund verteilt? Ob Marinellis Flucht schon vorbereitet war? Wie oft gingen
die Kuriere von Leipzig nach München?
Alles wußte Benjamin; wußte mehr, als man ihm sagte. Dafür brachte er
Theodor zu den anderen. Bekannte Gesichter aus München glaubte Theodor
wiederzufinden: den Invaliden Klatko aus den oberschlesischen
Abstimmungskämpfen; denDeserteur Conti aus Triest; den Vizefeldwebel
Fritsche aus Breslau; den gewesenen Polizeiwachtmeister Glawacki; den
Buchbinder Falbe aus Schleswig-Holstein.
Eine Woche lang ging er in die Versammlungen. Sah die verräucherten,
schlecht beleuchteten Lokale, die wie Bierkeller rochen; hörte Stimmen der
Redner, hohe Kopfstimmen, tiefe, wie aus Gräbern kommende, heisere,
rasselnde, das tausendfache Rufen der Zuhörer, stand hart neben ihnen, roch
ihren Schweiß und ihre Armut, sah in flackernde Pupillen, sah dürre Gesichter
auf knochigen Hälsen, eckige Fäuste an dünnen, wie ausgesogenen
Handgelenken; sah Schnurrbärte, willkürlich gekämmte über zahnlosen
Mündern, zwischen geöffneten Lippen schwarze Zahnlücken, Bandagen, von
Jodoform durchtränkte, über entblößten Armen. Sah Frauen mit spärlichem,
straffgekämmtem, wasserblondem Haar, die Armseligkeit der Trägerin, ihren
gedörrten Hals, sah durchsichtige, dünne, gelbliche Haut, in schlaffen Fetzen
hängende. Sah Mütter mit großköpfigen Kindern an welkender Brust, sah
Jünglinge mit verwegenen Locken über mutigen Stirnen, dennoch schon von
Arbeit und Krankheit gezeichnete, mit unnatürlich großen Augenhöhlen; sah
junge Mädchen in derben Schuhen, mit bleichen Gesichtern,
männersuchenden Augen, gefärbten Lippen, hörte ihre hemmungslos
kreischenden Stimmen. Er sah sie trinken, roch den Schnaps, verstand den
Dialekt nicht, lächelte ein leeres Lächeln, wenn jemand an ihn stieß. Fremd
waren ihm die Menschen, fremde Gesichter trugen sie, nicht von seiner Welt
waren sie, nicht von dieser Welt. Er bedauerte sie nicht, er sah, daß sie leiden
mußten, aber welcher Art ihr Leid war, konnte er sich nicht vorstellen. Den
einzelnen hätte er vielleicht verstanden, in der Menge aber gab es keine
Kontur, keinen bleibenden Punkt. Alles schwankte und schwamm. Wie sie
liebten, wußte er nicht, und nicht, wie sie weinten. Er sah, wie sie aßen, Brot,
das in den Rocktaschen lag, rissen sie mit Daumen und Zeigefinger heraus,
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Das Spinnennetz
- Titel
- Das Spinnennetz
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1923
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 93
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 10
- Kapitel 3 14
- Kapitel 4 17
- Kapitel 5 21
- Kapitel 6 24
- Kapitel 7 30
- Kapitel 8 32
- Kapitel 9 36
- Kapitel 10 39
- Kapitel 11 42
- Kapitel 12 44
- Kapitel 13 47
- Kapitel 14 50
- Kapitel 15 52
- Kapitel 16 54
- Kapitel 17 57
- Kapitel 18 59
- Kapitel 19 61
- Kapitel 20 64
- Kapitel 21 67
- Kapitel 22 69
- Kapitel 23 73
- Kapitel 24 76
- Kapitel 25 79
- Kapitel 26 81
- Kapitel 27 83
- Kapitel 28 86
- Kapitel 29 89
- Kapitel 30 92